Mannheim. Alice, vor fünf Jahren bist du mit deinem Song „No Roots“ schlagartig in ganz Europa bekannt und erfolgreich geworden. Hast du mittlerweile Wurzeln geschlagen?
Alice Merton: Ich habe ein paar Wurzeln in Berlin, auch meine Plattenfirma „Paper Plane Records“ habe ich dort gegründet, und jetzt gerade bin ich auch wieder in der Stadt. Aber ich bin noch immer nicht gewillt, für lange Zeit irgendwo eine feste Basis aufzuschlagen. Letztes Jahr bin ich also dann von Berlin nach London gezogen.
Wie blickst du eigentlich heute auf „No Roots“?
Merton: Ich liebe den Song noch immer! Er erzählt einfach meine Geschichte.
Geboren in Frankfurt als Tochter einer Deutschen und eines Iren, aufgewachsen in New York und Ontario, mit 13 nach München, nach dem Abitur ein BWL-Studium in Augsburg und dann die Popakademie in Mannheim, Berlin, jetzt London.
Merton: Und das ist die Kurzform (lacht).
Was hat dir als Kind und Jugendliche Stabilität gegeben?
Merton: Tatsächlich neben meiner Familie und engen Freunden vor allem die Musik. Durch meine Eltern, die Bands wie Queen und Alan Parsons Project lieben, kam ich mit Pop in Kontakt. Am Piano spielte ich anfangs nur klassische Stücke, in der 12. Klasse nahm ich dann an einem Songwriting-Kurs in der Schule teil und hatte super viel Spaß dabei, mir Melodien auszudenken und sie zu betexten. Songschreiben war dann eine wunderbare Möglichkeit für mich, mit dem Leben zurechtzukommen und das, was ich durchmachte, in Lieder zu verarbeiten.
So schlimm?
Merton: Vor allem der Umzug mit 13, 14 von Kanada nach München war sehr schwer. Ich hatte anfangs nicht viele Freunde und konnte die deutsche Sprache weder schreiben noch sprechen. Auch das Abi zu schaffen, war viel schwerer, als ich mir vorgestellt hatte. Mein ganzes Schulleben lang brauchte ich länger für die Hausaufgaben als die anderen, ich musste zwei Stunden am Tag mehr lernen und hatte dennoch immer Angst, ich würde durchfallen. Psychisch war die Schule wirklich hart für mich: Deutsch lernen, Goethe verstehen, parallel Klavier üben, später den Traum von der Musikerinnenkarriere vorantreiben. Ich war nie das Kind, das nach der Schule viel Freizeit hatte.
Hilft es dir heute, dass du früh gelernt hast, diszipliniert und konzentriert zu arbeiten?
Merton: Ja, dafür bin ich im Nachhinein sehr dankbar. Auch, dass ich es kenne, mir Ziele zu setzen, die sich erstmal total unerreichbar anfühlen. Es zu probieren und alles zu geben, das liegt mir. Und das Scheitern gehört dazu. Ursprünglich wollte ich klassischen Gesang studieren, bin aber an mehreren Universitäten abgelehnt worden, weil sie meine Stimme zu unrein fanden. Stattdessen nahm mich die Popakademie, und mein BWL-Studium war sehr nützlich, als ich meine eigene Plattenfirma gründete. Irgendwann macht eben alles Sinn (lacht).
Der Text deines neuen Songs „Blurry“ legt allerdings nah, dass du ein Mensch bist, der sich trotz allem sehr viele Sorgen macht.
Merton: Gott, ja. Ich mache mir sogar schrecklich viele Sorgen. Ganz bestimmt mehr als der Durchschnittsmensch und viel mehr, als gesund für mich ist.
Nimmst du das hin?
Merton: Nein, ich versuche das Grübeln zu reduzieren. Ist aber nicht einfach, so viel kann ich sagen. Ich lerne immerhin langsam, mich so anzunehmen, wie ich bin. Ich kann mir ja auch nicht ständig wünschen, ganz anders zu sein. Ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg. Ich habe auch eine Therapie gemacht, um mit den Ängsten klarzukommen. Auch das hat mich anfangs Überwindung gekostet.
Info
- Die Musikerin und Popakademie-Absolventin Alice Merton veröffentlicht am 17. Juni ihr zweites Album mit dem Titel „S.I.D.E.S.“ über ihr eigenes Label „Paper Plane Records“ - als Audio CD und auf Vinyl.
- Am Mittwoch, 2. November, 20 Uhr, tritt die Sängerin in der Alten Feuerwache in Mannheim auf. Karten im Vorverkauf ab 27 Euro zzgl. Gebühren, an der Abendkasse 35 Euro.
Du sprichst auf „S.I.D.E.S.“ viel übers Zweifeln und über die Angst vorm Scheitern, singst von Verlustängsten und enttäuschter Liebe. War das Schreiben der neuen Songs ein Teil der Therapie?
Merton: Auf jeden Fall. Ich fand es total schön, ein Album darüber zu schreiben, wie es mir in den vergangenen zwei Jahren ging. Alle Songs bis auf „Vertigo“ sind 2020 und 2021 entstanden, also während Corona. Das war ja eine Zeit der Ungewissheit und - in meinem Fall - auch der Umbrüche. Ich habe zwei Trennungen erlebt, eine berufliche und eine private, und diese ganze Pandemie hat das Leben verwirrend und kompliziert gemacht.
Du hast gesagt, du hättest einen Monat nur im Bett gelegen.
Merton: Ja, das war wirklich so. Mir ging es nicht gut. Ich wollte dem Leben einfach nicht ins Auge blicken. Ich wollte lieber im Selbstmitleid versinken. Ich bin darauf nicht stolz, aber ich muss anerkennen, dass das auch mal okay ist. Alles in meinem Job wurde abgesagt, die Zukunft sah überhaupt nicht schön aus. Eine Zeit lang ist es mir nicht gelungen, „Ach, es wird alles gut“ zu sagen. Die andere Seite habe ich erst ein Jahr später wieder erreicht, irgendwann 2021.
Hast du etwas gelernt in dieser Zeit?
Merton: Dass viele Dinge nicht voraussehbar und nicht planbar sind. Und dass es sehr gesund ist, sich nicht so viel Druck zu machen.
Sind deine Selbstzweifel mittlerweile verschwunden?
Merton: Die Selbstzweifel werden nie ganz weg sein, aber ich lerne, mit ihnen umzugehen. Es gelingt mir besser, die negativen Stimmen auszuschalten und dass die Panik, die in mir manchmal hochkommt, nicht wirklich meinen Gedanken entspringt und auch wieder abebbt. Ich denke, Zweifel sind auch soweit in Ordnung, so lange sie nicht mehr selbstzerstörerisch werden und mich kaputt machen.
Von außen betrachtet läuft ja sowieso alles seit Jahren sehr gut bei dir …
Merton: Die Leute sehen einen ja immer anders, als man sich selbst sieht. Ich würde mir manchmal wünschen, dass sie mich nicht nur auf der Bühne oder als Coach bei „The Voice of Germany“ erleben, sondern auch heulend und verzweifelt und depressiv im Bett erlebt hätten. Schlussendlich bin ich auch nur ein Mensch, bei dem es mal auf und mal ab geht, der traurige und niederschmetternde Erfahrungen macht, der aber auch tolle Momente und Augenblicke des puren Glücks erleben durfte. Das Leben bleibt nicht immer auf einem Niveau. Es kann sehr anstrengend sein. Aber es ist schön.
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