Wer den Frühstücksraum im Hotel „Weinhaus Uhle“ betritt, der wird von Roland Kaiser empfangen. Nein, natürlich nicht von ihm persönlich. Sondern von seiner Autogrammkarte auf einer kleinen Staffelei aus Holz. „Er steigt zuweilen bei uns ab, wenn er in Schwerin ist“, erzählt die junge Dame an der Rezeption im „ersten Haus am Platze“.
Auch am 3. Oktober war die Schlager-Legende in Schwerin, um auf Einladung von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig ein kostenloses Open-Air-Konzert zu geben – als Attraktion der zentralen Feiern zum Tag der Einheit, die in diesem Jahr in Mecklenburg-Vorpommerns Hauptstadt stattfanden. Mehr als 100 000 Besucher aus ganz Deutschland waren zu diesem Anlass in der Stadt – eines der Großereignisse, bei denen man sie näher kennenlernen konnte. Ein anderes war die Buga 2009 mit rund 1,9 Millionen Gästen.
Ganz zu Unrecht im Schatten von Hotspots wie Dresden
Ansonsten jedoch liegt die Stadt mit ihren 358 000 Übernachtungen 2023 im Windschatten ostdeutscher Reise-Hotspots wie Dresden (mehr als vier Millionen) oder Potsdam (1,4 Millionen). Auch Rostock, der historische Gegenpol an der Ostseeküste von Mecklenburg-Vorpommern, liegt mit 2,2 Millionen höher. Aber Schwerin könnte bald aufholen: Am 24. Juli 2024 erklärte die Unesco das Schloss-Ensemble zum Weltkulturerbe. Davon erhofft man sich vor Ort natürlich interessierte Besucher.
Und wer anreisen will, der hat es leicht. Meck-Pomm verfügt über die modernsten Autobahnen Deutschlands. Die Bahn bietet aus Mannheim bis zu 25 Verbindungen pro Tag, allerdings mit mindestens einem Umstieg. Entschädigung bietet der wunderbare Bahnhof, auf dem der/die Reisende ankommt: Seine Gründerzeit-Fassade von 1890 wurde 2005 auf Vordermann gebracht.
Nur wenige Schritte sind es in die Altstadt. Und auch sie selbst, für Autos weitgehend tabu, kann bequem zu Fuß erkundet werden. Schwerin ist überschaubau, zählt nur um die 95 000 Einwohner, nicht einmal ein Drittel Mannheims. Seit der Wiedervereinigung hat die Stadt 35 000 Bürger verloren. Obwohl sie 1990 vom Landtag des wiedererstandenen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern zur Hauptstadt erhoben wurde – gegen die starke Konkurrenz des ewigen Rivalen Rostock im Nordosten.
Seither hat sich Schwerin „enorm entwickelt“, wie nicht nur Manuela Schwesig sagt. Für die Altstadt etwa erwies sich die Wiedervereinigung als Segen. Seit Ende der 1960er Jahre war geplant, das gesamte historische Zentrum abzureißen und durch Plattenbauten zu ersetzen. Dieser Wahnsinn scheiterte alleine am Mangel an Geld und Material. Beides fehlte allerdings auch für die Erhaltung der historischen Bausubstanz. Und so verfiel sie ungehemmt. Erst nach der Einheit wurden Altstadt-Quartiere und Schloss saniert. Nun durchläuft man auf kleinen Gassen mit Kopfsteinpflaster ein Ensemble mit Fachwerk-Flair wie auf einer Modelleisenbahn-Anlage von Kibri.
Eines der interessantesten Gebäude ist das Kommodenhäuschen. 1698 errichtet, ragen die oberen Stockwerke über das Erdgeschoss in die Straße. Grund: Das sparte Steuern, denn die wurden damals auf Basis der bebauten Grundfläche berechnet. Auch eine gute Lösung für die heutige Grundsteuerdiskussion, wie mancher feixen mag. Seit 1857 betreibt die Familie Zettler hier eine Kunstdrechselei. Und mittendrin immer wieder Kirchen, die man als Auswärtiger gar nicht auseinanderhalten kann. Allen voran der Dom St. Marien und St. Johannes, ein gotischer Backsteinbau, der dank seines 117,5 Meter hohen Turms von überall her zu sehen ist. Aber das gilt auch umgekehrt: Wer die 220 Stufen schafft, darf einen wunderbaren Blick über die Stadt genießen.
Auf der zentralen Schlossstraße geht es vorbei an Prachtbauten, die diesen Straßennamen vollauf rechtfertigen. Wie etwa bei Hausnummer 2-4 das Kollegiengebäude, heute Sitz der Ministerpräsidentin. Oder aber das Mecklenburgische Staatstheater, das diejenigen kennen, die den Staatsakt am 3. Oktober im Fernsehen verfolgt haben. Während der Weimarer Republik Sitz des mecklenburgischen Landtages, gehörte das Haus nach 1945 wieder der Kultur. Das hiesige Schauspiel erwarb sich unter Christoph Schroth in den 1970er und 80er Jahren vor allem mit seinen „Faust“-Inszenierungen über die Grenzen der DDR hinaus Renommee. Auch nach der Wende erfreut es sich großer Resonanz. Ein Höhepunkt: Verdis „Nabucco“ sahen 2001 hier 60 000 Besucher.
Vor dem Theater: der „Alte Garten“, am 3. Oktober Ort des Roland-Kaiser-Konzerts, 35 Jahre zuvor aber Schauplatz der Friedlichen Revolution. 50 000 Menschen versammelten sich am 23. Oktober 1989, also noch 17 Tage vor dem Mauerfall in Berlin, um mit Kerzen friedlich gegen die SED-Diktatur zu demonstrieren.
Wahrzeichen der Stadt: das Schloss im See
Weiter gerade aus geht es über eine Brücke zu Schwerins Wahrzeichen: dem Schloss, gelegen malerisch auf einer Insel inmitten eines Sees. „Vergiss Neuschwanstein!“, schwärmt denn auch ein Besucher im Netz. Auf Grund strategisch günstiger Lage bereits im 12. Jahrhundert eine Burg, seit dem 14. Residenz der Herzöge von Mecklenburg, wurde es von diesen 1857 im romantischen Historismus umgebaut. Exemplarisch der Thronsaal mit Carraramarmor und Türen aus vergoldetem Gusseisen.
Das Ensemble überstand einen Großbrand 1913, auch wenn danach ein Drittel in Schutt und Asche lag, und den Zweiten Weltkrieg, ja sogar den anschließenden Sozialismus. 1990 beschloss der Landtag des wiedererstandenen Bundeslandes, im Großen Saal seinen Sitz zu nehmen.
Der Burggarten, 1857 konzipiert von dem berühmten Linné, wird von einer Orangerie gekrönt, die sich stimmungsvoll zum See hin öffnet – und in der man stilvoll einkehren kann. Und dann der wunderbare Schlossgarten, im Zuge der Bundesgartenschau 2009 attraktiv gestaltet.
Das alles umgeben vom Wasser: dem Schweriner See, mit 25 Kilometern Länge und sechs Kilometern Breite einer der größten Binnenseen Deutschlands. Entsprechend lang und erlebnisreich präsentieren sich die Ufer, zum Spazierengehen oder zum Radfahren. Welch ein Genuss!
Infos und Tipps
Lage: Schwerin liegt im Nordosten Deutschlands, nur 30 Kilometer südlich der Ostseeküste.
Anreise: Entfernung von Mannheim 677 Kilometer. Fahrzeit mit dem Auto sechs Stunden, mit der Bahn (ICE) 6,5 Stunden. Verbindungsbeispiel: Abfahrt Mannheim 8.08 Uhr, 1 mal Umsteigen, Ankunft Schwerin 14.29 Uhr.
Klima: Bedingt durch raue Winde ist es im Frühjahr und im Herbst kühler als im übrigen Norden. Im Sommer wird die Hitze dank der Ostsee angenehm abgemildert.
Übernachten: „Erstes Haus am Platze“: Hotel „Weinhaus Uhle“ im Herzen der Altstadt, gegründet 1751 als Weinlokal, später durch ein Hotel ergänzt, noch heute im Besitz der Gründerfamilie Uhl. DZ 145 Euro zuzüglich 26 Euro pP für Frühstück à la Carte. Infos: www.weinhaus-uhle.de.
Essen: „Altstadt-Brauhaus Zum Stadtkrug“, zwischen Bahnhof und Altstadt, gegründet 1817, im jetzigen Gebäude seit 1937, 2012 renoviert, köstliche zünftige Speisen. Infos: www.altstadtbrauhaus.de.
Events: noch bis 6.11.: Literaturtage, 8.-10.11.: Martensmarkt, 25.11.-30.12.: Weihnachtsmarkt.
Literatur: Knapp und aktuell: „Schwerin an einem Tag. Ein Stadtrundgang“, Lehmstedt-Verlag Leipzig 2024, 50 Seiten, 6 €.
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