Einmal weggehen, aus der eigenen Lebensform aussteigen, vielleicht hat jeder einmal daran gedacht. Wilfried Stern, der Protagonist des neuen Romans von Jan Turovski tut es wirklich, er verlässt Frau und Kinder sowie einen Alltag mit seinen kleinlichen Verbindlichkeiten und begibt sich auf eine Wanderung ins Ungewisse. Sein tagelanger Fußmarsch führt ihn über die Grenze tief hinein in den Wald, wo er sich im Unterholz ein Refugium, eine Koje, zusammenbaut. „Ich gehe nicht nur für mich“, sagt er „ich gehe für viele, die sich nicht trauen zu gehen.“
Stern ist aber kein Zivilisationsflüchtiger, viel mehr will er weg, weg „aus dem eingeteilten Leben mit den bekannten Antworten und latenten Verletzungen“, weg von einer Existenz, die er als monoton empfindet, in der ihm Zeitbegriffe allmählich abhanden kommen und die Tage ihre Konturen verlieren: Er hasste „die weißgestrichene, das Grundstück umlaufende Ziegelmauer, das Rechteck des Gartens, die beiden kecken Dachgauben, die Kindergeburtstage mit bunten Papptellern und bonbonfarbenen (…) Kerzen. Er war wie eine autonome Kugel, an deren empfindliche Haut die äußere Welt mit unerträglichen Geräuschen und scharfen Kanten schlug“.
Beim Gehen überkommen ihn Erinnerungen an unauslöschliche Momente seines Lebens wie jene, als er schon einmal als Zehnjähriger von zu Hause ausbüxte, weil er sich unverstanden fühlte: „Die sollen mal glauben, dass er tot ist, verschollen für immer.“ Oder als er an der Hand seiner Mutter an dem Haus „mit den lebendigen Masken“ vorbeilief und sie schnell etwas durch die Gitterstäbe schob, um danach eilig durch die Schrebergärten zu verschwinden. „Später und immer wieder werden die bleichen jüdischen Gesichter in ihm nachkommen.“
Bildkraft der Sprache
Doch wie es schon der Titel „Lea, Leona …“ erwarten lässt, sind es insbesondere Frauen, die Sterns Leben beherrschen: der erste Körperkontakt mit Ulla, dem Dienstmädchen, dann Lea, seine Frau, für die Sicherheit viel bedeutet, Luisa, seine Geliebte, die sagt: „Nichts ist unwichtig, auch eine verlässliche Ordnung nicht.“ Und schließlich Leona, deren „dunkles, mystisches“ Gesicht ihm hinter der Plastikfolie seiner Koje erscheint und die er darauf hin tagelang im Wald sucht. Nach dem „irrwitzigen Rausch der Vereinigung“ mit ihr, ist nichts mehr, wie es war. Für Stern ist es die Frau, die er hätte lieben können.
Erinnerungen und Träume, eine Vergangenheit, die immer wieder in die Gegenwart greift, mitschwingende literarische Bezüge, überraschende Wendungen, all das und noch viel mehr steckt in den knapp 170 Seiten des Romans, des sechzehnten, den Turovski in der vom Schriftsteller Klaus Servene in Mannheim gegründeten Edition Andiamo veröffentlicht hat. Wie in den vorherigen Bänden vertraut der Autor auch hier auf die Bildkraft der Sprache. Es sind die Tiefen und Untiefen, die sich hinter den Worten und Sätzen auftun, so dass der Leser die große Fremdheit, die Leere, die sich in Wilfried Stern ausbreitet, sein Wollen und Begehren, mit allen Sinnen wahrnimmt.
Info: Jan Turovski „Lea, Leona …“, Edition Andiamo, 167 Seiten, 12,90 Euro
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