Literatur - Anne Weber schreibt einen grandiosen Roman über Einsamkeit und die Erlösung daraus

Reise in die Liebe und in den Tod

Von 
Georg Patzer
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Sperber lebt in einem kleinen Fischerort in der Bretagne, in einer schäbigen Wohnung: „Bis auf das Leben und seine zähe Konstitution hatte er so ziemlich alles, was man verlieren kann, verloren: Arbeit, Haus, Frau, Kind, Sparbücher, Haar.“ Seinen Sohn hat er seit neun Jahren nicht mehr gesehen. Eigentlich hat er sich aufgegeben, lebt vor sich hin, hat ein paar Ticks: zählt die Poller, an denen er vorbeigeht, singt erfundene Lieder vor sich hin.

„Wie arm ich auch an Geheimnissen bin!“, denkt er einmal. „Oder sind meine Geheimnisse so geheim, dass ich sie selber nicht kenne?“ Aber dann kommt eine unbekannte Frau auf ihn zu und küsst ihn - einfach so. Und verschwindet wieder. Natürlich sucht er sie. Einmal sieht er sie auf einem bei Flut umspülten Felsen liegen, er erkennt sie an ihrem leuchtenden, blonden Haarkranz.

Dichte, poetische Sprache

Dann sieht er sie in einem Bus wegfahren, aber sie hat ihm ihre Adresse in Paris zurückgelassen, wo sie in einem Krankenhaus arbeitet. Er schreibt ihr einen abwehrenden Brief. Aber dann fährt er doch hinterher: „Sie gingen aufeinander zu. Und während sie nun voreinander standen und sich zum ersten Mal wirklich ansahen, wölbte sich bläulich über ihren Köpfen die Ahnung des noch zu lebenden Lebens, des zu Erfahrenden, der ungeheuren Vielfalt des miteinander Möglichen.“Und so beginnt eine heftige Liebesgeschichte, die zwei Tage und Nächte dauert.

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Veröffentlicht
Von
Sandra Usler
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Mit dem Epos „Annette“ ist Anne Weber schlagartig berühmt geworden, jetzt ist der Roman „Tal der Herrlichkeiten“, 2012 bei Fischer erschienen, noch einmal aufgelegt worden und damit neu zu entdecken. Es lohnt sich. Denn wie Anne Weber die Einsamkeit von Sperber und Luchs beschreibt, ihre Liebe und sogar den Sex, ist so dicht, poetisch, realistisch und gleichzeitig gefühlvoll.

So sehnsüchtig, erfüllend und voller überwältigender, genauer Bilder und Erkenntnisse, dass man aus dem bewundernden Staunen nicht mehr herauskommt: „Wie alle Dinge hatten auch Tag und Nacht fortan eine neue Bedeutung bekommen. Hell hieß: allein; miteinander: dunkel.“

Zwei Tage lang leben sie ihre Liebe im Miteinander, in Berührungen und Anrufen, einmal sieht er sie im Krankenhaus von fern, einmal heißt es: „Noch nie hatte in ihrer Wohnung jemand auf sie gewartet“. Dann stirbt sie bei einem Unfall. Und Sperber unternimmt das Unmögliche: Er steigt hinab ins Totenreich, wo er seine Mutter und seine ehemalige Frau trifft, und versucht, Luchs wieder ins Leben zu bringen.

Intensive Einblicke

In einer bebenden, schwebenden, aufgeladenen Sprache, die nur manchmal ins Pompöse fällt, führt Weber den Leser ganz nah an diese beiden Liebenden und ins Innere von Sperbers Lust und seiner verzweifelten Trauer. Vieles bleibt geheimnisvoll und rätselhaft wie das Gespräch mit der Bäckerin, die nicht schlafen kann, weil ihre Goldfische zu laut sind, oder die alte Frau im Bus, die Sperber ihr ganzes Leben erzählt, nachdem er gesagt hat: „Ich bin jetzt stärker als ein Engel“. Am Ende entscheidet Sperber, wieder in die Stummheit zurückzugleiten, will das Meer für ihn sprechen lassen: Er war in der Dämmerstadt des Todes und hat „mehr, als den Lebenden erlaubt ist, davon gesehen.“ Aber dabei bleibt es nicht. Er hat erfahren, was Leben bedeutet. Das Licht am Horizont erscheint erneut.

Freier Autor

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