„Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung ,Philosoph und Soziologe’ ganz zufrieden.“ Sagt Jürgen Habermas in einem neuen Buch, in dem er über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Laufe der Jahrzehnte erfuhr, Auskunft gibt.
Dass der inzwischen 95-jährige Intellektuelle, der mit seinen Beiträgen und Büchern wie kein anderer die politischen Debatten und wissenschaftlichen Diskurse geprägt hat, mit dieser Selbstbeschreibung tiefstapelt, weiß er natürlich auch. Denn Habermas war nie nur ein „Philosoph und Soziologe“, der sich im universitären Elfenbeinturm verschanzt und von oben herab seine Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationen, kulturellen Phänomenen und kommunikativen Strategien verkündet. Als Hochschullehrer in Frankfurt und Heidelberg oder als Autor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Sich mit sozialwissenschaftlichen Argumenten und historischen Erkenntnissen in die aktuellen Debatten einmischen, war stets sein größtes Bestreben, die europäische Einigung sein größter Wunsch und die Abwehr rechtsnationaler Tendenzen der innerste Antrieb des enzyklopädisch gebildeten Großintellektuellen, der sich in jungen Jahren in einer von Alt-Nazis beherrschten Universitätslandschaft durchsetzen musste.
„Es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde“
„Es musste etwas besser werden“, sagt Habermas (so lautet auch der Titel des Buches), „und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde.“ Uns, das sind seine aus dem Exil heimgekehrten Kollegen von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule, Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch seine linksliberalen Mit-Studenten Karl-Otto Apel, Ernst Tugendhat und Michael Theunissen. Im Gespräch mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos umkreist Habermas die Anfänge seiner wissenschaftlichen Biografie und die bleierne Zeit der bundesrepublikanischen Restauration, in der Habermas und sein Konzept einer auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die Formulierung einer vernunftgeleiteten Kommunikation ausgerichteten Sozialwissenschaft wie ein aufmüpfiger Fremdkörper wirkte und als linksradikal diffamiert wurde.
Dabei hatte Habermas längst Marx neu interpretiert, auch Freuds Psychoanalyse und vor allem dann die US-amerikanischen Forschungen zur Linguistik und Sprechakt-Theorie in sein Werk einbezogen, Bücher verfasst, die heute legendär sind: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, „Theorie des kommunikativen Handelns.“
Entschlossener die Klimakatastrophe verhindern
Im kollegialen Diskurs schreitet Habermas die wichtigsten Stationen seines Lebens und zentralen Begriffe seines Denkens ab, plädiert eindringlich für das Projekt der europäischen Einigung, fordert ein entschlosseneres Handeln zur Verhinderung der Klimakatastrophe, kommentiert den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, mahnt Israel, bei seinem gerechtfertigten Krieg gegen den Terror der Hamas zivilgesellschaftliche Maßstäbe zu beachten, erinnert an die „Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“. Natürlich hat Habermas recht. Aber hört man ihm auch zu?
„Es musste etwas besser werden.“ Suhrkamp. 254 S., 28 Euro.
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