Mannheim. Dass sich bei der Lektüre dieses Buches zunächst einmal ein etwas mulmiges Gefühl einstellt, ist wohl zwangsläufig angesichts der aktuellen Weltlage. Immerhin wird in Dmitrij Kapitelmans „Eine Formalie in Kiew“ der Präsident der Ukraine mit Blick auf dessen Vergangenheit konsequent als „Komikerpräsident“ oder auch „präsidialer Komiker“ bezeichnet. Das ganze vom Krieg heimgesuchte Land, das in jenem Wolodymyr Selenskyj eine zumal im Westen geschätzte Führungsperson gefunden hat, welche die überaus schwierige Lage anscheinend gut managt, ist in dem autobiografisch geprägten Roman zerfressen von Korruption und Nepotismus - überall Missstand, Bestechlichkeit, Suff und Vergnügungssucht.
Aktion zum Buch
- Die Aktion „Mannheim liest ein Buch“ wurde nach dem Vorbild anderer Städte im vergangenen Jahr von Christian Holtzhauer, Schauspielintendant des Nationaltheaters, und dem Germanistikprofessor Thomas Wortmann initiiert. Ausgewählt werden soll dafür, so die Projektbeschreibung, jeweils ein Text, „der ästhetisch heraussticht, der vielleicht auch herausfordert“ und der Leserinnen und Leser „unterschiedlicher Altersstufen und Herkünfte begeistert, weil er sie im besten Sinne betrifft“.
- Das ausgewählte Buch, im Vorjahr war es „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ von Karosh Taha, nun „Eine Formalie in Kiew“ von Dmitrij Kapitelman, soll im Zentrum zahlreicher Veranstaltungen und Aktionen stehen. Infos im Netz: mannheimliesteinbuch.de
- Dmitrij Kapitelman wurde 1986 in Kiew geboren und kam achtjährig mit seinen Eltern nach Deutschland. Er studierte in Leipzig, absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München und arbeitet als Journalist und Autor.
- Dmitrij Kapitelman: „Eine Formalie in Kiew“. Hanser Berlin. 176 Seiten, 20 Euro.
Nun, das Buch erschien eben schon 2021, also bevor die Ukraine von Russland mit Krieg überzogen wurde. Im Donbass rumort es aber schon eine Weile und gibt es Kämpfe; die Krim ist im Buch längst russisch besetzt. Vor allem das erste Drittel ist eine waschechte Satire, deren Kennzeichen nun mal die satte Überzeichnung ist, und zwar je mehr, desto besser meistens. Und dass es im Land auch unabhängig vom Krieg nicht mit allem zum Besten steht, geben durchaus auch ukrainische Bürgerinnen und Bürger zu, mit denen man gelegentlich gesprochen hat. Die EU lässt ja ebenfalls keinen Zweifel daran, dass das Land noch längst nicht reif für die europäische Gemeinschaft ist.
Amtliche Bescheinigung
Das gilt es zunächst einmal klarzustellen, wenn es um Kapitelmans Erzählung geht, die für die Fortsetzung der Aktion „Mannheim liest ein Buch“ ausgewählt wurde und im Herbst im Mittelpunkt vieler Veranstaltungen stehen soll. Und es lässt sich hinzufügen, dass sich im Buch zum Dur der Satire alsbald ein wehmütiges, menschlicheres Moll gesellt. Das macht die Lektüre nicht nur abwechslungsreicher und insgesamt angenehmer - es erhöht auch die literarische Qualität noch beträchtlich.
Als der Ich-Erzähler wieder in der alten Heimat ist, in Kiew, das er mit acht Jahren gemeinsam mit den Eltern und der älteren Schwester verlassen hat, um als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland auszureisen, wird der Text facettenreicher und tiefer. Die (satirische) Exposition wird auch als Vorurteil des Erzählers und seiner Eltern deutlich. Jener reist ja nur gezwungenermaßen nach Kiew, um sich eine amtliche Bescheinigung, eine „Geburtsurkundenbestätigung“, zu besorgen; die braucht er nämlich, um sich endlich in Deutschland einbürgern zu lassen, ein Vierteljahrhundert, nachdem er von Kiew nach Leipzig gekommen ist.
Haben Sie Lust auf das Buch?
Falls Sie sich nun entschieden haben, Dmitrij Kapitelmans „Eine Formalie in Kiew“ zu lesen, bitten wir Sie, unserem Aufruf zu folgen.
Als Kooperationspartner der Aktion „Mannheim liest ein Buch“ will die Redaktion Stimmen von Leserinnen und Lesern sammeln.
Ganz subjektiv: Was finden Sie gut, was weniger gut an dem Buch? Was hat Sie berührt? Wo haben Sie gelacht? Was denken Sie über das Buch?
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Bitte an: kultur@mamo.de (Stichwort: Kapitelman). Bitte mit Namen und Alter, wenn möglich.
Er trifft hier auf „sowjetische Stillstandsgebäude“ (oder -straßen oder -steine), auf allerlei Nachwirkungen der untergegangenen Sowjetunion also, die im Land und bei seinen Bewohnern tiefe Spuren hinterlassen hat; er trifft auf Menschen, die sich „im Korruptionskolosseum“ behaupten und oft recht sympathisch sind, wenn man ihnen näherkommt. Und das passiert der „Dima“ genannten Hauptfigur über die Wochen des Aufenthalts durchaus mit einigen. Nebenbei wird immer wieder die Familienkonstellation aufgearbeitet, fragt sich Dima, wieso er zu seinen Eltern eigentlich kaum noch Kontakt hat. Klar wird immer mehr, dass dies die eigentliche Aufgabe ist, welche der Aufenthalt ermöglicht - mit sich und den Seinen ins Reine zu kommen und sich klarer zu werden über die eigene Herkunft und Geschichte.
Auf sie bleibt nicht nur Dima bezogen; den Eltern geht es ebenso, und auch sie reisen dann aus unterschiedlichen Gründen noch zurück nach Kiew. Turbulent wird das Ganze dadurch nicht weniger, denn der Vater hat inzwischen einen Schlaganfall erlitten und erhebliche Ausfallerscheinungen. Und die katzenliebende Mutter ist ohnehin ein Kapitel für sich. Die desolate Finanzlage der Familie hat Mutter Vera indes weniger zu verantworten als ihr Mann Leonid, der sich aber nun leider an kaum etwas noch erinnern kann.
Es bleibt also kompliziert und spannend. Nebenbei werden Leserinnen und Leser ein wenig informiert in Sachen Landeskunde und ukrainische Sprache, besonders was Schimpfwörter betrifft. Und bei alldem rücken die beteiligten Figuren wieder näher zusammen. Worum es eigentlich geht in diesem Buch, davon berichtet der Autor kunstvoll wie nebenbei und doch umso nachdrücklicher, jenseits der Satire. Es geht um Migration und um alle die Schwierigkeiten und Besonderheiten, die mit ihr verbunden sind. Insofern passt „Eine Formalie in Kiew“ gut zur Migrationsstadt Mannheim.
Gegen Ende heißt es einmal klar und unmissverständlich: „Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten.“ Vor allem nämlich geht es um Menschlichkeit, um Verständigung und Aussöhnung; darum dreht sich das Leben und darum dreht sich auch die Literatur. Daran lässt auch der lebensprall und fantasievoll erzählende Autor Dmitrij Kapitelman keinen Zweifel. Für Schon-immer-Deutsche hält er übrigens noch einen guten Rat bereit: Es meckert sich zwar leicht über dies und das; man darf aber auch ruhig mal konstatieren, dass hierzulande sehr vieles gar nicht mal so übel ist.
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