Gerade hat sie es geschafft, sich aus den Klauen ihrer Herkunft zu befreien, ist dem Mief der Kleinstadt und der Armut der Arbeiterklasse entflohen. Sie hat sich mit Bildung vollgestopft und studiert Literatur und Philosophie, sucht die Nähe zu Künstlern und Intellektuellen. Doch die neue Welt und die Hoffnung auf eine selbstbestimmte Zukunft, die verheißungsvoll am Horizont aufscheint, zerfällt schlagartig. Denise ist schwanger, und Marc, ihr bourgeoiser Freund, ist ein kleinkarierter Feigling und nimmt Reißaus.
Eine Geschichte davon, wie Hass entsteht
Weil Abtreibungen illegal sind (wir sind im Jahr 1961) legt die Zwanzigjährige ihr Schicksal in die Hände einer greisenhaften „Engelmacherin“, die in einem Hinterzimmer eine Abtreibung einleitet. Von fürchterlichen Schmerzen geplagt, hockt Denise in ihrem Zimmer und wartet auf den Abgang des Fötus. Sie hasst die ganze Welt, die miesen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Bigotterie der Kirche und die intellektuell aufgeplusterte Scheinwelt der Professoren.
Starker Tobak, manchmal kaum zu ertragen. Die ersten Seiten von „Die leeren Schränke“, dem Debütroman von Annie Ernaux, der 1974 in Frankreich veröffentlicht und erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde, sind eine Zumutung. Die blutige Abtreibung, die Schreie und Schmerzen der jungen Frau, ihre Wut, ihr Hass, der alles gnadenlos in den Orkus der Unterdrückungsgeschichte und Geschlechter-Kämpfe verbannen will: Da gilt es, Nerven zu bewahren und zu hoffen, dass die Furie der Zerstörung zur Besinnung kommt, es schafft, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, einen Weg ins Freie zu finden.
Wie Ernaux in ihrem Werk ihre eigene Herkunft und Identität reflektiert
In ihrem Erstling hatte sich die Literaturnobelpreisträgerin noch hinter dem Namen Denise Lesur versteckt. Aber klar ist natürlich, dass fast alles, was der Tochter aus proletarischem Milieu im Roman widerfährt, die Biografie der Autorin widerspiegelt, die sie in mehr als zwanzig Büchern erzählt hat.
Die Geschichte der Abtreibung, die Ernaux 30 Jahre später noch einmal, leicht verändert und viel analytischer, im Roman „Das Ereignis“ ausbreiten wird, ist in „Die leeren Schränke“ die Klammer für die intensive Geschichte einer schmerzlichen Selbstfindung. Im Kostüm von Denise wandert die Autorin durch Kindheit und Jugend in ärmlichen Verhältnissen. Sie beschreibt, wie sie erst alles ungefiltert aufsaugt. Wie sie sich auf einer katholischen Privatschule gegen die Arroganz ihrer aus betuchten Verhältnissen stammenden Mitschülerinnen behauptet, Bücher verschlingt, ein Einser-Abitur hinlegt. Dabei gerät sie zwischen die sozialen Fronten, liebt ihre einfachen Eltern und hasst zugleich deren ungebildete Sprache. Von Scham und Ekel zerfressen flieht sie in die Welt. Und kann sich doch nicht von ihrer Herkunft lösen. Die Freiheit des Aufbruchs mündet in Heimatlosigkeit, im Gefühl, sich und seine soziale Klasse zu verraten. Ein auswegloses Dilemma, das man allenfalls schreibend bearbeiten, aber niemals überwinden kann.
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