Nun also auch Eva Menasse. Mit „Vienna“ hatte die österreichische Journalistin 2005 furios debütiert als Romanautorin und seither die Höhe gehalten in ihrer Prosa. „Dunkelblum“ nun, das Kaff im Ländereck zu Ungarn ist so viel kleiner als die Hauptstadt, dass ein sehr übersichtlicher Stadtplan auf den Vorsatzseiten des Buches Platz hat und an den Rändern sogar noch Raum bleibt.
Deutschsprachige Autoren widmen sich verstärkt und wieder den Provinzen, weil hier alles noch übersichtlich scheint und begreifbar, wo im Großen der Durchblick vor lauter Besserwisserei verlorengeht. Juli Zeh und Dörte Hansen stricken daraus Bestseller, Christoph Hein ist jüngst so ein Unternehmen etwas verunglückt, und Sasa Stanisic destilliert daraus einen Humor, der von der Verringerung des Abstands zum Fremden lebt. Nun setzt Eva Menasse einen neuen Maßstab. Überall eskaliert der Streit im Winkel, bei ihr aber geschieht das höchst differenziert, mit hintergründiger Ironie und gar nicht eindimensional. Sie läuft nicht medial hingesimpelten Informationen hinterher, sondern nimmt sich Zeit für tiefere Einsichten.
Dunkles Geheimnis wird entwirrt
Halbschwester von Schriftsteller Robert Menasse
Eva Menasse wurde im Mai 1970 in Wien geboren. Die frühere Journalistin ist die Halbschwester von Bestseller-Autor Robert Menasse („Die Hauptstadt“).
Auch Eva Menasses Werk ist vielfach ausgezeichnet. So wurde sie unter anderem 2013 mit dem Heinrich-Böll-Preis und 2017 mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg geehrt.
Der Durchbruch gelang Menasse 2005 mit ihrem ersten Roman „Vienna“, der vor allem in Deutschland positiv rezensiert wurde und mit dem Rolf-Heyne-Debütpreis ausgezeichnet worden ist.
Ihr neuer Roman „Dunkelblum“ ist erneut beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, hat 526 Seiten und kostet 25 Euro. seko
Weil sie viele Blickrichtungen aufscheinen lässt und durchspielt, braucht sie ein größeres Personal. Und auch die Zeiten sind weit gespannt durch die Historie mit Schwerpunkten um den Zweiten Weltkrieg bis zum Jahr des Mauerfalls. Ihr fiktiver Ort „am östlichen Ende der westlichen Welt“ ist bäuerlich geprägt. Die Leute haben hier keine Ziergärten, weil jeder Quadratmeter genutzt wird. Zur Erntezeit wird die Schulpflicht nicht mehr allzu ernst genommen. Man hört vor allem die Kreissägen, die Männer sind gezeichnet vom lebenslangen Weinkonsum. Doch auch hierher ist das Wirtschaftswunder vorgedrungen, es gibt eine asphaltierte Straße, Autohäuser, kleine Unternehmen, Super- und Drogeriemärkte. Alle sind motorisiert, was die Bahn überflüssig gemacht hat. Der Arzt verordnet vor allem frische Luft und reißt bei Hausbesuchen die Fenster auf.
Auch mit der Wasserversorgung möchte man autark bleiben, weswegen sich ein Widerstand gegen den gemeinschaftlichen Verband formiert. Wie schon einmal vor knapp fünfzig Jahren hat man Angst vor denen aus dem Osten. Damals wurden sie zum Bau des Südostwalls gezwungen, der „letzten hochtrabenden Führerbunker-Phantasie“.
Heute sind die ersten Vorboten einfach da, Reinhard aus Sachsen drang in Heuraffls Jagdhütte ein und wartet auf seine Familie. Und noch ein seltsamer Gast erscheint: Dr. Alexander Gellért aus den Vereinigten Staaten. Der aber mietet sich im Hotel ein und stellt unbequeme Fragen.
Die vierfache Mutter Leonore Reschen ist so schön, wie es in dieser Gegend gar nicht vorgesehen ist. Natürlich resultiert eines der Kinder aus einem Fehltritt. Könnte sie ihren Dialekt loswerden, hätte sie Chancen in der Hauptstadt. So aber holt sie Sauna, Bösendorfer-Flügel, Antiquitäten und junge Kunst auf den Biohof ihres Gatten. Kein Wunder, dass sich ihre Tochter Flocke den Studenten anschließt, die fragen, warum der jüdische Friedhof so vernachlässigt ist, und sich überhaupt für Geschichte interessieren. Das tut auch Rehberg, der Reisebürobetreiber. Er schreibt an einer Ortschronik, und je mehr er sich damit beschäftigt, desto mehr wachsen Zweifel an vermeintlichen Gewissheiten.
Dunkelblum hat ein dunkles Geheimnis. Eva Menasse kreist es vieldimensional ein, entwirrt es wie ein verfilztes Knäuel in ihrem sehr anderen Heimatroman. Das Motto des dritten Teils dieses spannenden, ereignisprallen und immer wieder anders gegen ein großes tosendes Schweigen und Verdrängen angehenden Buches fand sie bei Robert Musil: „Historisch ist das, was man selbst nicht tun würde.“
Nie langatmig
Literatur kann von mehr sprechen als nur von den einfachen Wahrheiten. Sie macht in diesem schönen Falle deutlich, wie auch in der überschaubaren Gemeinschaft die Gegensätze aufeinanderprallen. Kann sein, das große Welttheater spielt woanders. Der Sumpf der Rätsel, erfährt man in diesem großartigen und nie langatmigen Buch, „übersteigt … seit jeher die der aufgeklärten Fälle um ein Vielfaches.“
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