Mannheim. Sting macht in der Mannheimer SAP Arena nach einer charmanten Begrüßung auf Deutsch nicht viele Worte um die Weltlage - schließlich hat er schon 1985, im Kalten Krieg, alles Nötige mit den empathischen Mitteln des Pop gesagt: „We share the same biology, regardless of ideology. But what might save us, me and you, Is if the Russians love their children too“ (Wir teilen dieselbe Biologie, ungeachtet der Ideologie. Aber was uns retten könnte, mich und dich, das wäre, wenn die Russen ihre Kinder auch lieben).
Da das auch im heißen Ukraine-Krieg unstrittig ist, wirkt es stark, wenn der 70-Jährige mit diesem Balladen-Fanal seine Deutschland-Tournee zum neu eingespielten Best-of-Album „My Songs“ (2019) eröffnet. Zumal er sich dabei nur von zwei ukrainischen Streicherinnen begleiten lässt. Ein Gänsehaut-Moment! Einer von vielen in diesem denkwürdigen ersten Rock-Konzert in der SAP Arena seit Pandemiebeginn.
Körperlich und stimmlich Topform
Im halbstündigen Vorprogramm hat quasi die jüngere Ausgabe von Gordon Sumner alias Sting das Publikum auf seine Seite geholt: Der 46-jährige Joe Sumner spielt solo erstklassige Popsongs und ähnelt seinem Vater stimmlich und stilistisch mehr als äußerlich. 2017 war er auch Teil der Hauptband und assistierte dem damals in der SAP Arena sehr gut aufgelegten Sting gesanglich.
Das hat der inzwischen 70-Jährige nun nullkommanull nötig. Er wirkt körperlich topfit und so energiegeladen wie zuletzt auf der Reunion-Tour mit The Police, und seine Stimme klingt fast alterslos - allenfalls gegen Konzertende hört man den höchsten Tönen an, dass hier kein 25-Jähriger auf dem Gas steht. Dass ihm in der SAP Arena bei teilweis gesperrtem Oberrang schätzungsweise „nur“ rund 6000 Fans zujubeln, beeindruckt den Briten nicht. Mit seiner bis zu achtköpfigen Band um die Gitarristen Dominic und Rufus Miller wirkt er regelrecht ausgehungert - und liefert eine Weltklasse-Performance. Die das Publikum dankbar aufnimmt und mit immer tosenderem Jubel quittiert.
Von Rock zu Romantik
Nach dem andächtigen Beginn mit „Russians“ steigt der Energie-Level ansatzlos: Der Police-Klassiker „Message In A Bottle“ wird extrem nach vorne gespielt, drei der größten Solo-Hits halten die Betriebstemperatur bis eine extrem rockige Version von „Every Little Thing She Does Is Magic“ abräumt wie ein Konzertfinale. Dabei leitet es nach einer umwerfenden ersten halben Stunde nur über zu einem Block mit fünf größtenteils romantischen Songs vom aktuellen Album „The Bridge“ (2021). Die überzeugen - allen voran das gesanglich virtuos arrangierte „For Her Love“.
Es fließt dabei nicht nur ein, dass der solo lange als vielfältiger Popsänger erfolgreiche Sting in den 2010er Jahren die Lust an Rock wiedergefunden hat. Dank der Kooperation mit dem Jamaikaner Shaggy pflegt er auch die Wave-Reggae-Wurzeln von The Police intensiv - und kreativ. Wie zur Belohnung gibt es nach den neuen Songs erstmal eine betörende Version von „Fields Of Gold“, gefolgt von einer humorigen Einlage: „Toi toi toi“, sagt Sting grinsend zu seinem jungen Harmonika-Spieler, nachdem er dem Publikum berichtet hat, dass im Original von „Brand New Day“ niemand Geringeres als Stevie Wonder seinen Part gespielt hat. Dann holt die Nummer die Fans von den Stühlen. Auch beeindruckend: die Soul-Einlagen von Background-Sänger Gene Noble in „Shape Of My Heart“.
100 Minuten, die wie im Flug vergehen
Die typischen „Yahahoos“ und „Yohoohoos“ leiten einen Zwischenspurt mit Police-Hits ein: Nach „Wrapped Around Your Finger“ webt die Band in das mitreißende „Walking On The Moon“ gekonnt Bob Marleys „Get Up, Stand Up“ ein. „So Lonely“, seit 44 Jahren ein verlässlicher Hochenergie-Abräumer in Clubs und Konzerten, wird durch den Einbau von „No Woman No Cry“ noch strahlkräftiger - und vom Publikum inbrünstig mitgesungen. Eine wunderschöne, sanfte Gesangseinlage mit Charmeurs-Augenaufschlag vom Hauptdarsteller („So lonely, Mannheim) unterstreicht die enorme Spielfreude.
Andernorts müsste man wegen solcher stilistischer Anleihen womöglich über kulturelle Aneignung durch den Vertreter einer Kolonialmacht diskutieren. Dann wäre dieser Live-Meilenstein aber nicht zustande gekommen. Genauso wenig wie das englisch-arabische „Desert Rose“, das seit 23 Jahren musikalisch und menschlich Brücken schlägt wie einst „Russians“.
Nach knapp 100 Minuten, die wie im Flug vergehen, endet der Hauptteil im höchsten Tempo mit einem triumphalen „Every Breath You Take“. Die Zugabe folgt ohne Pause: „Roxanne“ hält den enormen Stimmungspegel und verblüfft mit einer jazzigen Gesangsimprovisation, dann kommt bei „Driven To Tears“ die komplette Band inklusive Joe Sumner voll zur Geltung. Der Abend endet fast zwangsläufig mit der perlenden Ballade „Fragile“, die hier zum Schwesterstück von „Russians“ wird. Sting hat es 1987 für den US-Ingenieur Ben Linder geschrieben, der in Nicaragua durch die von den USA unterstützten Contra-Rebellen getötet wurde. Es ist Stings Memento mori, wie zerbrechlich unser aller Leben ist - und leider so aktuell wie lange nicht.
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