Mannheim. Eine deutsche Rock-Ikone widmet sich seinem Idol und einer der größten Legenden seines Fachs: Beim ausverkauften Seebühnenzauber Spezial im Mannheimer Luisenpark singt BAP-Frontmann Wolfgang Niedecken Songs von Bob Dylan und liest dazu Passagen aus seinem aktuellen Buch über seine Sicht auf den Literaturnobelpreisträger. Da das Wetter allen miesen Prognosen zum Trotz hält, erleben 230 restlos begeisterte Zuschauerinnen und Zuschauer einen denkwürdigen Abend. Den bringt Niedecken schon bei der Begrüßung mit Blick auf die schöne Kulisse der Seebühne fast prophetisch auf en Punkt: „Iss et nich schön? Die Antwort lautet: Et iss herrlich!“
Bevor es losgeht, redet er sich auch etwas Frust von der Seele: „Ich muss aufpassen, nicht allzu lange über die Impferei zu reden. Das ist ätzend. Aber ich verstehe nicht, warum sich Leute nicht impfen lassen. Das finde ich wahnsinnig.“ Damit erntet er den ersten großen Applaus. Begleitet wird Niedecken von Mike Herting, “ein alter Freund, seit 45 Jahren, länger als es BAP gibt”, wie der 70-jährige Sänger über den 67-jährigen studierten Jazzmusiker erzählt. Der Tastenvirtuose ist nicht nur einer der Arrangeure, Dirigenten und Komponisten der WDR Big Band Köln (und damit federführend beim Big-Band-Album “Niedecken Köln” von 2004). Er war auch als Pop-Produzent etwa mit Trio Rio (“New York - Rio -Tokyo”) erfolgreich und 2003 musikalischer Leiter der Castingshow “Deutschland sucht den Superstar” beteiligt. Und einer der Protagonisten der Kölner Rockszene der 1970er Jahre, in denen auch der Kunststudent Niedecken zunächst als Bassist musikalisch loslegte.
Der scherzt, dass er Herting mitgenommen habe, “um nicht allein als Klampfenelse hier rumzusitzen. Und damit etwas richtige Musik dabei ist.” Das ist Understatement in zwei Richtungen: Zum einen, ist Niedecken gesanglich in sehr guter Form und als Erzähler ohnehin eine Bank, wirkt aber an diesem Abend besonders gelöst, entspannt und schlagfertig. Zum anderen übertrifft Herting die Vorschusslorbeeren noch um Längen: Sein Spiel und die neuen Arrangements für diese Duo-Tournee heben viele Songs auf eine andere, oft ungewöhnlich beschwingte Ebene.
Kurzweilige zweieinhalb Stunden
So vergehen zweieinhalb Stunden wie im Flug, was für eine Mischung aus Lesung und Musik nicht ganz selbstverständlich ist. Zumal Kultur-Veranstaltungen in der Pandemie selten länger als 90 Minuten dauern. Aber die Kombination Niedecken/Herting/Dylan mit dem Ambiente der Seebühne ist einfach brillant.
Das liegt natürlich auch am Ausgangsmaterial: Über Dylans Songs muss man nicht diskutieren, die Niedecken oft in einer Mischung aus Englischem Original und seinen Übersetzungen in den Kölner Dialekt interpretiert. Im Wechsel mit kongenialem eigenem Material und Passagen aus seinem aktuellen Buch über Dylan. Das habe er bewusst ganz subjektiv gehalten, denn “die zehntausendste Dylan-Biografie” brauche ja niemand mehr. Die nötige Zeit habe die Corona-Auszeit geliefert, den roten eine Reise 2017 durch die USA, aus der Musikfilmemacher Hannes Rossacher eine eindrückliche Dokumentation gemacht hat. Das stark anekdotisch, aber trotzdem in Sachen Niedecken und Dylan höchst instruktive 240-Seiten-Büchlein ist in der KiWi-Musikbibliothek erschienen. In dieser Reihe sind subjektive Blicke auf Stars Programm. So berichtet Niedecken über die Lektüre des Beatles-Bandes des Kabarettisten Frank Goosen. Der habe über die Fab Four in Bochum geschrieben, zumindest seien sie ihm dort in seinem Kinderzimmer begleitet. Schriftsteller Klaus Modick hat dagegen einen Roman verfasst, in dem die Musik Leonard Cohens eine Hauptrolle spiele. Niedeckens Dylan-Band kann dagegen aus der Realität schöpfen, wie bei den gelesenen Passagen zwischen den Songs schnell klar wird: Der BAP-Sänger und Songwriter hat sein Idol mehrfach kurz getroffen und weiß von zahllosen Konzerten in aller Welt zu berichten – darunter Dylans historischer erster Auftritt 1978 in Deutschland, das er wegen des Holocausts lange gemieden hat. Dazu kommen viele Geschichten auf den Spuren „des Meisters“, vom Kindheitsort Duluth über Woodstock bis New York.
Infos
- Die nächste Gelegenheit, Wolfgang Niedecken live zu sehen: Mit BAP am Samstag, 5. November 2022, im Mannheimer Rosengarten. Karten bei eventim.de (43,90 bis 69,90 Euro).
- Das Buch “Wolfgang Niedecken über Bob Dylan” ist in der KiWi Musikbibliothek erschienen (Kiepenheuer & Witsch, 240 Seiten, 14 Euro). Das vom Kölner eingelesene Hörbuch kostet als CD 10 Euro (Argon Verlag). Die vier Stunden und 20 Minuten lange ungekürzte Digitalfassung gibt es für acht Euro.
Erinnerung an Zeit als Kneipenmusiker
Immer wieder schwärmt der Kölner über die Location: „Es ist wunderbar hier. Das kannte ich noch gar nicht. Meine Tochter hat drei Jahre in Mannheim studiert und mir das hier vorenthalten.“ Am spektakulärsten, teilweise regelrecht erhebend gerät der musikalische Teil: Den Anfang macht „Sinnflut“ vom 1979 erschienen Debütalbum „Wolfgang Niedecken's BAP rockt andere kölsche Leeder“, das mehr als deutlich in der Texttradition Dylans steht. Und von Herting mit einem zeitlosen Arrangement wunderbar modernisiert wurde. Köstlich wie der junge Niedecken damals die Schlagzeilen der Springer-Presse fiktiv zitiert: „Irrer schwafelt von der Sintflut Nummer zwei! / Anarchisten und die SPD wahrscheinlich mit dabei! / Kölner Sänger droht mit Weltuntergang! / Weltverbesserer macht grünen Witwen Angst und Bang!“Das ist fast kabarettistisch.Mieser.
Während Niedecken die Passage über den Besuch am Lincoln Memorial in Washington liest, wo Dylan mit Joan Baez bei Martin-Luther Kings legendärer „I Have A Dream-Rede“ vor 250 000 Bürgerrechtsbewegten begleitet hat, stiehlt ihm ein vierbeiniges Haushaltsmitglied fast die Show: Hund Numa (mit Ausnahmegenehmigung zu Gast im Luisenpark) sorgt für Erheiterung, als sie auf die Bühne läuft und auf ihren angestammten Platz unter dem Tisch zu Füßen ihres Herrchens möchte. Tina Niedecken führt sie freundlich ab. Die Episode unterstreicht den familiären Charakter - einerseits der Konzertreihen im Luisenpark, andererseits der bundesweiten BAP-Familie, die diese tierische in Mannheim mit größtem Vergnügen miterlebt.
Den Dylan-Klassiker „The Times They Are A Changin“ singt Niedecken danach mit perfekt angekratzter Stimme, etwas lieblicher, als der Meister selbst heutzutage intoniert. Wenn er seine vordergründig politischen Lieder überhaupt noch anfasst. „My Back Pages“, zu Kölsch: „Vill passiert sickher“, mischt gekonnt die Sprachen, genau wie „Like A Rolling Stone“ – mit dessen Übersetzung ins Kölsche Niedecken nie richtig glücklich war, wie er selbst bekennt. Das Lied hatte ihn vom Bassisten der Schülerband The Troop zum Sänger gemacht, überhaupt vom Maler zum Musiker - ein Funke, aus dem deutsche Rockgeschichte entstand.
Auch eigenes Material
Apropos Niedecken spielt auch etwas vom aktuellen Album „Alles fließt“, das aber aus seinen Anfangszeiten stammt: seinen allerersten Song in Mundart. „Leev Frau Herrmanns“ ist ein spät wiederentdecktes Geburtstagslied für eine alte Dame aus der Nachbarschaft, der Niedecken im Zivildienst 1976 wieder begegnete.
Eine bewegende Nummer, gefolgt von einer wunderschön beschwingten, zweistimmig gesungenen Version von „One More Cup Of Coffee“. Das begeistert auch den Hauptdarsteller, der seinen Nebenmann dafür zu Recht bejubelt: „Mike Herting, Erfinder des Flamenco-Pianos!“ Jetzt folgen nur noch musikalische Glanzlichter: Vom stimmungsvollen „You Ain’t Goin’ Nowhere“ über die Kombination aus „Wo dä Nordwind“ und „Girl From The North Country“, bei der ein Storch majestätisch den Luftraum über dem See kreuzt und „Man In The Long Black Coat“, dem besten Sing von „Oh Mercy“, dem Album mit dem Dylan 1989 Anlauf nahm, bis er wieder so großartige Platten wie „Good As I Been To You“ (1992), „Tempest“ (2012) oder zuletzt „Rough And Rowdy Ways“ (2020( produzierte. Auch das ebenfalls zweistimmige „Only A Hobo“ bekommt sehr viel Applaus. Atmosphärisch sei es das Vorbild für den BAP-Klassiker „Jupp“ gewesen, berichtet Niedecken. Das wird noch übertroffen vom starken „Just Like Tom Thumb‘s Blues“, bei dem mehr (oder weniger) rhythmisch mitgeklatscht wird. Jetzt steigt die Stimmung mit abnehmender Helligkeit von Song zu Song: „Forever Young“ mit spektakulärem Herting-Solo und die BAP-Nummer "Songs sinn Dräume", dann in der Zugabe „Knockin‘ On Heaven‘s Door“ und „Schluss Aus Okay“. Mit „Es war uns ein Fest, vielen Dank!“ und einem Dank an die Veranstalter verabschiedet sich das Duo zu prasselndem Applaus.
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