Remakes japanischer Leinwandklassiker haben eine lange Tradition. Man denke an „Tokyo Family“, Jôji Yamadas Neuinterpretation von Yasujir Ozus „Die Reise nach Tokio“, John Woos „Notwehr“, eine Überarbeitung von Jun’ya Satôs gleichnamigem Polizeithriller, oder die europäischen und amerikanischen Verfilmungen nach Kinohits von Akira Kurosawa.
Unter Cineasten wird besonders Kurosawas Drama „Ikiru“ (1952) geschätzt, zu dem der Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro („Was vom Tage übrig blieb“) das Drehbuch verfasst hat. Dieser zeichnet auch für das Skript der Adaption des Südafrikaners Oliver Hermanus („Moffie“) verantwortlich, die auf dem Sundance Film Festival ihre Premiere feierte. Die Handlung spielt 1953 in England. Die Spuren des Zweite Weltkriegs sind deutlich zu sehen. Noch herrschen die strikten Regeln der Klassengesellschaft.
Bill Francis Nighy
- Bill Francis Nighy wurde 1949 in Caterham, Surrey, geboren.
- Er wollte Journalist und Schriftsteller werden, ehe er an der Guildford School of Dance and Drama studierte.
- Bill Nighy war über 20 Jahre bei Film und Fernsehen tätig, ehe er in „Still Crazy“ (1998) den Durchbruch schaffte.
- Er überzeugte in „Tatsächlich ... Liebe“ und als Pirat Davy Jones in „Fluch der Karibik 2 & 3“. Für seinen Part in „Gideon’s Daughter“ gewann Nighty einen Golden Globe.
- Von 1981 bis 2008 war er mit der Schauspielerin Diana Quick („The Death of Stalin“) liiert und hat mit ihr eine Tochter.
Protagonist der Geschichte ist der stocksteife Williams (Bill Nighy), seines Zeichens leitender Beamter im London County Hall, zuständig für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge. Jeden Morgen besteigt er - gewandet im Streifenanzug, Melone auf dem Kopf, Regenschirm in der Hand - den Vorortzug, der ihn vom ländlichen Surrey in die City bringt. Am Bahnhof Waterloo angekommen, trifft er seine Angestellten. Höflich grüßen sie ihren Vorgesetzten, den sie hinter vorgehaltener Hand „the old man“ nennen. Auf sein Kommando hin folgen sie ihm ins Amt, unter ihnen der neue Mitarbeiter Peter Wakeling (Alex Sharp).
Aktenberge türmen sich
Der idealistische junge Mann lernt gleich am ersten Tag, wie es hier um die Arbeit steht - besser gesagt, wie selbige vermieden wird. Am Beispiel einer Gruppe Frauen, die auf einem zerbombten Areal einen Kinderspielplatz errichten lassen will. Von einer Abteilung zur nächsten werden sie geschickt. Niemand erklärt sich für zuständig. So landet ihr Antrag auf einem der vielen Aktenberge, die sich auf Williams’ Schreibtisch türmen. „Je höher der Stapel, umso besser“, weiß die empathische Kollegin Margaret Harris (Aimee Lou Wood). Zumal es nach ihrer Aussage egal ist, ob ein Fall behandelt wird oder nicht - frei nach Franz Kafka: „Die Fessel der gequälten Menschheit sind aus Kanzleipapier“.
Bis zu seiner Pensionierung würde der Witwer - er bewohnt mit seinem Sohn und der zänkischen Schwiegertochter ein kleines Haus - wohl so weitermachen. Schon seit langem fühlt sich für ihn sein Dasein leer und bedeutungslos an. Da zwingt ihn eine medizinische Diagnose dazu, Bilanz zu ziehen - und zu versuchen, Erfüllung zu finden. Ins Seebad Brighton macht er sich auf. Stürzt sich mit einem trinkfesten Schriftsteller (Tom Burke) ins Nachtleben, besucht Bars und Cabarets. Findet darin jedoch keine Befriedigung. Zurück in London trifft er zufällig auf Margaret, die eine neue Herausforderung sucht - mittels eines Jobwechsels. Von ihrem Tatendrang angesteckt, kommt Williams eines Abends die Erleuchtung. Eine, die einfach und zugleich doch tiefgründig ist. Mit Peters Hilfe macht er sich ans Werk.
Ein Charakterporträt, die Geschichte einer Verwandlung, ganz zugeschnitten auf den formidabel agierenden Nighy („Tatsächlich ... Liebe“), der für seinen Part mit einer Oscar-Nominierung als bester Hauptdarsteller bedacht wurde. Langsam, zögerlich löst Williams sich aus seinem alten Leben, anrührend die Szene, wenn er in einer Kneipe mit zunächst brüchiger Stimme eine melancholische Gesangseinlage gibt. Frische Energie durchströmt ihn plötzlich, als humorvoller, geistreicher Mann entpuppt er sich. Definitiv einer der Höhepunkte der Arbeit, die sich insgesamt sehr bedächtig entwickelt, ehe sie auf den Punkt kommt.
„Fade Fünfziger“ werden spürbar
Gut harmonieren die Co-Stars Sharp („Mank“) und Wood („Sex Education“) mit Nighy. Margaret gesteht, dass sie ihren Chef insgeheim einen „Zombie“ nennt, er kontert damit, dass er einfach immer nur ein Gentleman sein wollte. Eine Klasse für sich sind Kostümbild, Ausstattung und Produktionsdesign. Perfekt wird man in eine vergangene Ära transportiert, der kleinbürgerliche, spießige Mief der „faden Fünfziger“ ist geradezu körperlich spürbar.
Passend dazu fällt die Kameraarbeit von Jamie Ramsay („Ein Festtag“) aus, der seine häufig verregneten Bilder gedeckt hält, auf dunkle Töne, primär Schwarz und Braun, setzt. Eine melancholische, handwerklich tadelfrei umgesetzte Arthouse-Produktion, die Geduld voraussetzt und Werte wie Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit beschwört.
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