Mannheim. So krass war es noch nie: Unter den Top25 der aktuellen Single-Charts stehen 21 Weihnachts-Popsongs. Dem Streaming-Zeitalter und seinen Playlists sei Dank. Neue Songs kommen sogar aus der Quadratestadt, ohne direkt an der Hitparade zu kratzen.
Vor Jahresfrist hat diese Redaktion im Rahmen einer Serie 75 Ideen für die Stadt Mannheim zusammengetragen, darunter auch der Vorschlag für die Musikstadt, einen eigenen Weihnachtssong zu produzieren. Entstanden sind pünktlich zum Fest 2022 tatsächlich gleich zwei (allerdings unabhängig vom Aufruf).
Loi covert Sias „Snowman“
Beide kommen von Stimmen, von denen 2023 viel zu erwarten ist: Zum einen hat die Mannheimerin Loi sich die Ballade „Snowman“ von Sias großartigem Weihnachtspopalbum „Everyday Is Christmas“. Die bald 20-jährige Leonie Greiner, Ex-Finalistin der Castingshow „The Voice Kids“, bestätigt mit ihrer noch gefühlvolleren, mehr als 300.000-mal bei Spotify gestreamten Interpretation die hohen Erwartungen an ihre große, inzwischen extrem gut entwickelte Stimme.
Thomas Siffling swingt, wenn er singt
Für viele vielleicht unerwartet: Jazz-Trompeter Thomas Siffling will 2023 auch als Sänger ernst machen. Ein Weihnachtslied als Vorboten für ein Album mit hat ihm sein Freund und Produzent Antonio Berardi auf den Leib geschrieben: „Merry Christmas“ swingt mit Hilfe von Pianist Thilo Wagner, Bassist Joel Locher und Drummer Oliver Strauch enorm und trotzdem entspannt. Der Ella-&-Louis-Chef singt souverän, auch weil er keine überambitionierten Stimm-Kapriolen schlägt. Er hat natürlich ein Problem, das der bald 50-Jährige mit Größen wie Til Brönner oder Chet Baker teilt: Sobald er in die Trompete oder ins Flügelhorn stößt, stiehlt er sich zwangsläufig selbst die Show.
Louis Armstrong nimmt’s mit Humor
Den entspannten Swing beherrscht die Jazz-Legende Louis Armstrong (1901-1971) noch besser – und lässiger. Das macht das Hören von „Louis Wishes You A Cool Yule“ zu einem echten Festtagsvergnügen – temperamentvoll, witzig und mit der genau richtig dosierten Dosis orchestralem Kitsch, der nur an Weihnachten so plätzchensüß sein darf. Darauf werden erstmals seine Weihnachtstracks als zusammenhängendes Gesamtwerk präsentiert: sechs Decca-Singles aus den 1950er Jahren, zwei Duette mit seinen Duo-Favoritinnen Ella Fitzgerald und Velma Middleton sowie seine Evergreen-Ballade „What a Wonderful World“, die als universale Hoffnungshymne ideal zum Geist des Weihnachtsfestes passt. Dazu bekommen Fans eine bisher unveröffentlichte Aufnahme von Satchmos Lesung des Gedichts „A Visit From St. Nicholas“ (auch bekannt als „The Night Before Christmas“) von Samuel Clement, am Piano wunderbar untermalt von der New-Orleans-Jazzikone Sullivan Fortner. Trotz (eigentlich wegen) der gewiss eigenwilligen Stimme ein Geschenk nicht nur für Fans. Das übrigens perfekt zu Bob Dylans knurriger Weihnachtsplatte „Christmas In The Heart“ (2009) passt.
Sarah Connor überrascht – nur dieses Cover!
Aber es gibt auch komplett neue Weihnachtsalben, sogar eine Nummer eins von Sarah Connor. Thomas Gottschalk mag vielleicht der Meinung sein, es sei eine gute Nachricht, dass die Sängerin nicht zu seinem „Menschen“-Jahresrückblick bei RTL kommen konnte. Es ist jedenfalls sehr positiv, dass Deutschlands erste R&B-Diva vorher noch ein Weihnachtsalbum aufgenommen hat. Nachdem die Delmenhorsterin extrem erfolgreich zum deutschen Popgesang konvertiert ist und sich dabei unnötige Soul-Schnörkel und Manierismen fast komplett abgewöhnt ist, fallen auch diese elf neu geschriebenen, poppig produzierten Christmas-Songs auf Englisch fast durchgängig hörenswert aus. Und unerwartet abwechslungsreich: Der Titelsong „Not So Silent Night“ klingt beinahe wie Alternative-Punkpop. Also: Nicht von der schrecklich kitschigen Gebetspose auf dem Cover abschrecken lassen, und Connors Liedern eine Chance geben. Ein, zwei Songs passen in so ziemliche jede Weihnachts-Playlist - und singen kann die Frau nun mal. Außerdem hat es lange kein so ambitioniertes Weihnachtsalbum aus Deutschland gegeben (seit, nun ja, Helene Fischers starstrotzendem Breitwand-Orchesterwerk „Weihnachten“ (2015)). Und Connors Platte muss sich gewiss nicht vor den parallel erschienen, ziemlich überproduzierten Christmas-Pop-Versuchen der Backstreet Boys, von The Kelly Family oder Kylie Minogue verstecken.
Joss Stone lässt es langsam angehen
Sogar noch etwas stimmgewaltiger könnte Joss Stone die Sache angehen. Das ehemalige Soul-Rock-Wunderkind aus Dover hält sich aber gesanglich etwas zurück. Das überfrachtet die Auswahl von zwölf Traditionals und weihnachtlichen Popklassikern mit einem eigenen Song („Bring On Christmas Day“) zwar nicht, wirkt aber angesichts der Flut der Veröffentlichungen fast etwas austauschbar. Insgesamt wird das festliche Motto „Süßer die Boxen nie klingen“ aber souverän umgesetzt, ohne dass es den Weihnachtsfrieden (oder -streit) groß stört.
Andrea Bocelli singt mit den Kindern
Sehr gekonnter Weihnachtskitsch kommt aus Italien: Auf Andreas Bocellis „A Family Christmas“ macht der Startenor 13 perfekt produzierte Stücke lang nicht allein gesanglich bella figura. Er bezieht auch seine begabten Kinder Virgina und Matteo bei der Interpretation der meist poppigen Weihnachtsnummern ein. Das Album eignet sich als Last-Minute-Weihnachtsgeschenk für relativ viele Geschmäcker. Man beachte allerdings auch hier den erhöhten musikalischen Zuckergehalt, der bei entsprechender Allergie Zahnschmerzen verursachen könnte.
Weihnachtspop 2022: Tipps und Flops
2022 sind in Sachen Weihnachtspop vor allem interessante Sampler und neue Zusammenstellungen erschienen – sozusagen Playlists für Menschen mit Stereo-Anlagen. Zum Beispiel: „The Greatest Christmas Songs“, „The Greatest Christmas Songs Of The 21st Century“ oder – als etwas ungediegenere Alternative - „A Very Cool Christmas 3“.
Hörenswert sind auch erweiterte oder neue zusammengestellte Weihnachtsalben von Stars wie Norah Jones(„I Dream Of Christmas (2022 Deluxe Edition)“) und Neil Diamond („A Neil Diamond Christmas“).
Nur für Fans zu empfehlen sich die aktuellen Weihnachtsplatten der Backstreet Boys und der Kelly Family, von Modern Talking, Kylie Minogue André Rieu oder Status Quo.
Fiddler’s Green schießen die Lichter aus
Eher die aufgedrehte Espresso-Variante von Weihnachtspop kommt von den Erlanger Folkrockern Fiddler‘s Green. Das Sextett startet etwas überdreht mit „Merry Christmas Everyone“ (Shakin‘ Stevens) und „Merry Christmas Everybody“ (Slade), den ihre Uptempo-Versionen von Klassikern wie „White Christmas“ oder „Jingle Bells“ noch überholen. Für die Fiddler gilt: Je rauer, desto besser. Sie können es aber auch bedächtig, etwa mit Paul McCartneys Wings-Schmonzette „Mull Of Kintyre“ und am hörenswertesten bei Traditionals wie „God Rest Ye Merry, Gentlemen“. Die einzige eigene Nummer „Seven Holy Nights“ fällt am Schluss nicht ab, genau so wenig wie das jahreszeitlich etwas verirrte „Stop The Cavalry“. Das Glam-rockig strahlende „Twelve Days Of Christmas“ setzt dem Baum die Krone auf. Danach ist man fit für die X-Mas-Party außer Haus oder reif fürs Bett.
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