Das Detail macht den Unterschied. Anders als in Hotels üblich, befindet sich die Rezeption im Sacher nicht am Eingang, sondern fast versteckt. Hinten. In einer kleinen Nische. Diskretion hat hier eben Tradition. Der Weg zu diesem Empfang führt vorbei an Bildern derer, die das zu schätzen wissen: Elizabeth II., Gracia Patricia, John F. Kennedy. Man spürt: Es ist ein Haus mit Geschichte.
Dabei beginnt vor 190 Jahren alles mit einer Süßigkeit. Der Überlieferung nach wünscht sich Staatskanzler Fürst Metternich 1832 für besondere Gäste auch einen besonderen Kuchen. Der Chefkoch ist krank, und so ist es an dem Bäckerlehrling Franz Sacher, diesen Auftrag auszuführen.
Und der 16-Jährige erschafft eine Kreation aus Schokolade und Marillenmarmelade. Sie mundet den Gästen vorzüglich, wird damit zum Start seiner gastronomischen Karriere: Die Torte ist Aushängeschild jenes Feinkostladens, den Sacher 1848 in Wien eröffnet. Der Weg seines 1843 geborenen Sohns Eduard ist also vorgezeichnet; dieser absolviert eine Lehre in der Hofzuckerbäckerei Demel und geht seinen Weg in einer Zeit des allgemeinen Aufbruchs.
Österreich-Ungarn ist nach Russland der flächengrößte Staat Europas. 50 Millionen Einwohner, elf Nationen, noch mehr Sprachen. Seine Hauptstadt Wien ist eine Metropole und will das auch zeigen. In den 1860-er Jahren beginnt der Bau der Ringstraße: Bürgerpalais und Hotels, Banken und Versicherungen, Theater und Museen, sogar die Universität. Man ist wer – indem man hier flaniert oder hier wohnt.
Noch während die Oper erbaut wird, eröffnet Eduard Sacher in ihrer Nähe 1873 ein Delikatessengeschäft. An guten Tagen macht er 1500 Gulden Umsatz. Zum Vergleich: Die Arbeiter, die in der Ringstraße schuften, verdienen pro Tag einen Gulden. 1876 erwirbt Sacher direkt gegenüber der Oper ein Palais im Stile der Neorenaissance und eröffnet hier das Hotel de l‘Opera, das jedoch bald seinen Namen trägt.
Ein Erfolgsduo entsteht
Im neuen Haus heuert Anna Maria Fuchs, Tochter eines Fleischers, als Verkäuferin an. Dem Patron fällt sie auf. Sie ist hübsch, mit sprühenden Augen. An Fasching 1880 heiratet der 15 Jahre ältere Sacher die 21-Jährige. Die beiden werden ein Erfolgsduo: Anna kümmert sich um die Küche und das Haus. Menükarten lässt sie von Künstlern gestalten, Cabinets mal orientalisch, mal japanisch einrichten. Die direkte Nähe zur Oper garantiert Frequentierung durch deren Besucher und Künstler.
Das Hotel expandiert, so dass es sukzessive die Nachbargebäude dazu mieten muss. Am Ende umfasst es sechs Stadthäuser an allen vier Straßen des Quadrats. Da es nicht als Einheit konzipiert ist, die Häuser verschiedene Raumhöhen haben, liegen sie auf unterschiedlichen Ebenen; vom mittleren muss man über Treppen in die seitlichen, Gepäck und Geschirr getragen werden.
Auch privat blüht das Glück, drei Kinder hat das Paar. Da stirbt der Patron 1892 mit gerade mal 49 Jahren. An einer Lungenentzündung. Testamentarisch verfügt Eduard einen Verwalter für das Hotel. In den Beileidsbekundungen der Geschäftspartner manifestieren sich bereits diskret gierige Kaufgelüste. Der kaiserliche Hof entzieht dem Hotel sofort den Titel des Hoflieferanten.
Niemand hat die Witwe auf der Rechnung. Doch Anna, gerade mal 32, ist nicht bereit, beiseite zu treten. Sie aktiviert ihre Netzwerke, die Stammgäste Esterhazy und Rothschild. Drei Jahre kämpft sie um ihr Hotel. 1895 darf sie es weiterführen – als „Witwenbetrieb“ und als „Frau Eduard Sacher“. So ist das damals. Doch innerhalb nur eines Jahres verdoppelt sie den Umsatz und führt das Haus zu seinem legendären Ruf. Separées werden kultiviert, deren Geheimnisse nur portionsweise dosiert durchgestochen, aber gerade dadurch zum Gespräch werden. In ihnen können, wie eine Insiderin formuliert, „Politiker Komplotte schmieden und die Liebenden sich an verbotenen Freuden berauschen.“ Besonders die Orgien des Kronprinzen Rudolf sind legendär.
Anna Sacher ist eine Person des öffentlichen Lebens, bekannt auch durch ihre beiden Bulldoggen, die „Sacher-Bullys“. Eine Millionärin. Die einzige Frau, die ein Großunternehmen leitet, in einer Zeit, in der Frauen noch nicht einmal ein Kaffeehaus betreten dürfen. An den Wochenenden geht sie auf die Rennbahn, zockt, raucht Zigarren.
Und Männer? Einen gibt es: Julius Schuster, Banker bei Rothschild, aber verheiratet. Doch daran will sie gar nichts ändern. Soll ihr Haus denn Hotel Schuster heißen? Stattdessen verkuppelt sie ihre 15-jährige Tochter mit dem Sohn ihres Geliebten. Nähe wird somit offiziell möglich.
Sie kann sich sogar einen mächtigen Feind leisten: den Bürgermeister Karl Lueger, einen überzeugten Antisemiten. Annas jüdische Stammgäste, sie sind seine erklärten Feinde. Das Sacher nennt er „Zuflucht der Überflüssigen“. Auf einem Ball kommt es zum Eklat zwischen beiden. Der Rathaus-Chef rächt sich, indem er die neue Straßenbahnlinie am Sacher vorbeirattern lässt.
Mehr erfahren über das Sacher
Lage: Das Sacher erstreckt sich über ein komplettes Quadrat in der Wiener Innenstadt gegenüber der Oper.
Inhaber: Eine GmbH (Sacher Hotels Betriebsgesellschaft mbH), seit 2015 unter Leitung von Georg Gürtler und Alexandra Winkler, Nachfahren des Sacher-Besitzers Hans Gürtler.
Angebot: Restaurants Grüne Bar, Rote Bar, Blaue Bar, Confiserie, Café, Sacher Eck, Salon Sacher, Hotel.
Hotel: 152 Zimmer und Suiten. Im Stil klassisch, technisch auf modernstem Stand. Traditionsgemäß tragen die Suiten Namen von Komponisten oder klassischen Opern (La Traviata, Carmen, Zauberflöte, Madame Butterfly, Nabucco, Rigoletto), die neuen Suiten im Dachgeschoss von zeitgenössischen Opern (Lulu, Billy Budd). Preis: DZ m. F. ab ca. 600 Euro.
Bewertung: Das Sacher gehört zu den „Leading Hotels of the World“, seit Einbau des Spa-Bereichs 2006 auch zur Kategorie „Leading Spa“.
Torte: Imitationen werden oft verkauft; doch nur die echte Sacher-Torte darf das Prädikat „Original“ tragen“. Preisbeispiel: Große Variante (1,6 kg, 22 cm Durchmesser, 12 Portionen) im Versand zu 66 Euro.
Dokus: Die beste: „Die Königin von Wien – Anna Sacher und ihr Hotel“ von Beate Thalberg (2016). Mit Experteninterviews ordnet sie die Entwicklung des Hotels in den Lauf der Zeit ein. In der ZDF-Mediathek abrufbar.
Sacher im Film: Am bekanntesten: Fernsehserie „Hallo – Hotel Sacher . . . Portier“, 26 Folgen gesendet 1973 und 1975 im ZDF. Fritz Eckhardt spielt darin den Sacher-Portier Oswald Huber. Jede Staffel (13 Folgen) auf DVD erhältlich (ca. 15 Euro). -tin
Der Erste Weltkrieg bildet einen Einschnitt. Im Sacher feiern die feschen jungen Offiziere im August 1914 ihre ersehnte Einberufung an die Front. Bald jedoch wird man hier lange Totenlisten in den Zeitungen studieren. Um im Sacher zu speisen, braucht man keine Lebensmittelkarten; viel Geld genügt. Zeitungen veröffentlichen die Menükarten, befüttern den Neid der Hungernden.
Bei Kriegsende 1918 ist die Patronin um die 60 und hat Unsummen durch Kriegsanleihen verloren – und viele Gäste. Österreich ist auf ein Zehntel seiner Größe dezimiert, wird Republik, der Adel abgeschafft. Anna Sacher muss das Porträt des Kaisers im Entrée des Hotels abhängen.
Die Wirtschaftskrisen der 1920er Jahre erschüttern die Gesellschaft und das Hotel. Arm gewordene Reiche nehmen sich das Leben, aus Verzweiflung oder aus Scham, nachdem sie es im Sacher bei einer Flasche Chateau lafite noch einmal krachen lassen. Anna Sacher will nicht aufgeben. Doch allgemeine Wirtschaftskrise und eigene Wettschulden führen auch sie 1930 in die Krise.
Familie? Ebenfalls Chaos: Sohn Eduard eröffnet direkt gegenüber dem Hotel ein Café und verrät das 100 Jahre geheime Rezept der Torte an die Konkurrenz. Tochter Anni, die unglücklich verkuppelte, bringt sich mit 20 Jahren um. Es wird einsam um die einstige Königin von Wien.
Erfolgreicher Neuanfang 1934
Mitten im Fasching, am 25. Februar 1930, stirbt Anna Sacher – mit 71, an Herzversagen. Natürlich in ihrem Hotel. Ihr Sarg wird einmal um das Haus gefahren, den Trauerzug zur Augustinerkirche säumen Zehntausende. Begraben wird die Patronin aber nicht in der Familiengruft der Sachers, sondern an der Seite ihres Geliebten – und dessen Ehefrau.
Die Konkursmasse des Hotels übernehmen 1934 zwei ganz unterschiedliche Akteure: Hans Gürtler, einer der berühmtesten Strafverteidiger seiner Zeit, und der Hotelier Josef Siller. Stratege Gürtler mit seinen Verbindungen und Gastronom Siller mit seinem Fachwissen werden das neue Erfolgsduo des Sacher. Trotz 1938. Da erfolgt der Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland. Vor dem Sacher wird die Hakenkreuzflagge aufgezogen. Den Nazis gilt es dennoch weiter als „Judenhotel“.
Kurz vor Kriegsende 1945 zerstören Bomben die Ringstraße. Rund ums Sacher versinkt alles in Schutt und Asche, auch die Oper. Nur das Hotel bleibt wie durch ein Wunder verschont und wird von den Russen besetzt. Als Wien unter den vier Siegermächten aufgeteilt wird, wechselt der Erste Bezirk samt Sacher zu den Briten. Graham Greene sitzt in der Bar, als ihm ein Offizier von den unterirdischen Gängen Wiens erzählt. Er ist elektrisiert, macht noch vor Ort erste Notizen für ein Film-Drehbuch: „Der dritte Mann“.
1951 erhalten die Eigentümer ihr Hotel zurück. Da Sillers keine Kinder haben, ist das Sacher seit 1962 alleiniges Eigentum der Gürtlers. Als solches Familienbetrieb bis heute.
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