Zeitreise

Rundgang durch Büdingen-Horror im Hexenturm

Beim Rundgang durch das Städtchen Büdingen östlich von Frankfurt sieht der Besucher viele hochkarätige Denkmäler, trifft aber auch auf düstere Schatten der Geschichte

Von 
Klaus Backes
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Um 1170 errichtet und nie zerstört: Das Büdinger Schloss hat viel Bausubstanz aus der Stauferzeit bewahrt und beherbergt beachtliche Sammlungen. © Klaus Backes

Mannheim. Nicht nur Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen wurden 2021 von Hochwasser heimgesucht. Auch das hessische Büdingen war am 29. Januar betroffen, wobei es glücklicherweise keine Toten gab. Solche Ereignisse haben hier nicht nur mit Starkregen zu tun, erläutert Stadtführerin Christa Hollnagel: „Die Geschichte der Stadt beginnt um 1170 mit dem Bau der Burg in einem Sumpfgebiet. Solche Wasserburgen hatten wegen des feuchten Untergrunds massive Gründungen aus Eichenstämmen.“

Wenn dann zu dem hohen Grundwasserstand noch Starkregen dazukommt und der Seemenbach über die Ufer tritt, gibt es kein Halten mehr: „Die komplette Altstadt stand 1,50 Meter hoch unter Wasser“, erzählt die Stadtführerin. „In den Wohnungen im Erdgeschoss war alles kaputt. Die Leute sind mit dem Paddelboot hier herum. Zuletzt gab es 1759 eine solch schlimme Überschwemmung.“ Heute bringt der hohe Grundwasserstand vor allem Unheil, früher in erster Linie Schutz. Denn die nassen Gräben um die Burg machten einen Angriff fast unmöglich, und wegen des sumpfigen Geländes erübrigte sich im Osten eine Stadtmauer.

Dicke Geschütztürme

Apropos Stadtmauer: Büdingen hat gleich drei davon. Die älteste entstand in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, eventuell nach dem Marktrecht von 1330. Die zweite Mauer wurde um 1390 errichtet, um auch die Neustadt schützen zu können. Von beiden stehen noch stattliche Reste. Die dritte schließlich ist etwas Besonderes: Sie machte Büdingen zur Festung. Im Kölschgarten sind alle Mauergenerationen zu sehen: eine lange Partie der Altstadtmauer, ein Teil der Neustadtmauer und schließlich die modernste Befestigung mit ihren dicken Geschütztürmen. Zu letzteren zählt der Rote Turm, der neben etlichen Kanonenscharten auch ein großes Stadtmodell beherbergt, das Büdingen um 1640 zeigt.

Informationen für Besucher

Anfahrt von Mannheim: Über die Autobahn A656 zum Kreuz Mannheim, dort auf die A67 Richtung Frankfurt. Am Kreuz Darmstadt auf die A5 Richtung Frankfurt. Am Frankfurter Kreuz auf die A3 Richtung München/Würzburg/Offenbach. An der Abfahrt Hanau die Autobahn verlassen und auf der B45 Richtung Fulda/Hanau weiterfahren. Bei der Anschlussstelle Hanau/Klein-Auheim auf die B43A und am Hanauer Kreuz auf die A66. Am Langenselbolder Dreieck auf die A45 in Richtung Dortmund/Gießen. Die Abfahrt 41 nehmen und in Richtung Ronneburg und von dort aus nach Büdingen weiterfahren.

Entfernung von Mannheim: etwa 130 Kilometer

Fahrzeit: etwa 90 Minuten

Mit ÖPNV: Von Frankfurt Hauptbahnhof fahren regelmäßig Züge nach Büdingen. Der dortige Bahnhof liegt etwa 1,5 Kilometer von der Altstadt entfernt.

Weitere Informationen: Tourist-Information Büdingen, Marktplatz 9, Tel. 06042 96 370, www.buedingen-touristik.de, Schlossbesichtigung: www.schloss-buedingen.de

Literatur: Decker/Großmann: Schloss Büdingen, Regensburg 1999, Elmar Brohl: Festungen in Hessen, Regensburg 2013. kba

Aber weshalb leistete sich eine relativ arme Stadt eine solch mächtige, für den Geschützkampf ausgelegte Befestigung? Der Bauherr, Graf Ludwig II., hatte wenige Jahre zuvor die Verheerungen der Mainzer Stiftsfehde erlebt. Vielleicht wollte er die Stadt künftig vor solchen Schrecken schützen. Eventuell half auch sein Bruder Dieter, der mächtige Erzbischof von Mainz, bei der Finanzierung. Die Arbeiten dauerten von 1486 bis 1517 und konzentrierten sich auf die gefährdete Westseite der Stadt.

Vom Gerüst erschlagen

Ludwig sollte die Fertigstellung nicht erleben, denn 1511 erschlug ihn während der Besichtigung des Baufortschritts am Folterturm ein umstürzendes Gerüst. Eine Inschrift weist auf den Unfall hin: „Gott gnad der Seel“. Unweit davon liegt der mächtigste Turm, das „Große Bollwerk“ mit einem Durchmesser von 17 Metern, etwa 4,50 Meter dicken Wänden und 16 Geschützscharten.

Christa Hollnagel schließt die Tür auf. Dahinter liegt ein großer, kühler, halbdunkler Raum. Die Stadtführerin erläutert, dass hier Theaterstücke aufgeführt werden, zum Teil nach alten Gerichtsprotokollen. Denn in Büdingen fielen 180 Menschen dem Hexenwahn zum Opfer. Durch einen Gang und einen jüngeren Durchbruch geht es in den unweit gelegenen Hexenturm: Ein Ort des Grauens. Christa Hollnagel schildert, dass die „Hexen“ durch das „Angstloch“ in den düsteren Raum heruntergelassen und an noch herumliegende schwere Steine angekettet wurden. „Man glaubte nämlich, sie könnten um Mitternacht wegfliegen.“ Die Frauen vegetierten in Dunkelheit, Gestank und Hoffnungslosigkeit. Sie ritzten Zahlen und Buchstaben in die Wände.

Ein Wahrzeichen von Büdingen ist das Jerusalemer Tor aus der Zeit um 1500. © Klaus Backes

Die Vielzahl der Fälle hat nach Auffassung der Stadtführerin mit der strengen calvinistischen Auslegung des Protestantismus zu tun, die hier praktiziert wurde. Die meisten Hexenprozesse gab es während des Dreißigjährigen Kriegs nach dessen Ende lediglich noch ein Drittel der Bevölkerung übrig war. „Die Leute fragten sich: Warum bestraft der Herr uns so? Da muss es doch Schuldige geben?“

Die Stadtführerin verweist auf Spitzel, die ihre Mitbürger beobachteten und sündhaftes Verhalten an den Pfarrer meldeten. Denunziationen waren Tür und Tor geöffnet. Missgunst, Neid, Boshaftigkeit und übergroße Frömmigkeit ergaben eine giftiges Gebräu „Viele reiche Witwen wurden hingerichtet, weil man an ihr Geld wollte. Es waren kaum die Grafen, sondern die Bürger, die Hexenprozesse vorantrieben.“ Im frühen 18. Jahrhundert endete der Wahnsinn. Raus ans Sonnenlicht, durchatmen.

Das Jerusalemer Tor gilt als Wahrzeichen von Büdingen. Über den Ursprung des Namens gibt es viele Spekulationen. Leider hat man die anderen Tore im 19. Jahrhundert abgerissen. Beim Gang durch die Stadt fällt auf, dass nur einfaches Fachwerk zu sehen ist, kein Schnitzwerk, keine Schnörkel. Vielleicht ein Erbe der Calvinisten. In der Marienkirche zerstörten sie die einst reiche spätgotische Ausstattung. Vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der Chor Grablege der Grafen von Ysenburg-Büdingen.

Überall Frösche

Mehr Prunk hat der 1569 erbaute Oberhof bewahrt. Er diente unter anderem als Witwensitz der Gräfinnen, heute als Domizil von Musik- und Kunstschule sowie eines Modellbaumuseums. „Die Stadt hat den Renaissance-Bau für eine Mark gekauft und dann 16 Millionen Mark in die Renovierung gesteckt“, erläutert die Stadtführerin.

Die bunten Froschfiguren, die dem Besucher auf Schritt und Tritt begegnen, hätten die Calvinisten sicherlich nicht geduldet. Christa Hollnagel erzählt, was es damit auf sich hat. Graf Anton heiratete 1530 Elisabeth von Wied. In der Hochzeitsnacht lauschten die Diener an der Tür. Die Braut schimpfte und wollte wieder zu ihrem Papa. Am nächsten Tag erklärte sie, die Frösche in den Burggräben hätten sie gestört. Da kamen die Bürger und fingen alle Quaker weg. Seitdem heißen sie in der Region „Büdinger Frösche“. Im 19. Jahrhundert wurden die Gräben um die Burg zugeschüttet: eine finale Lösung des Problems.

Turmreich: die festungsmäßig ausgebaute Stadtmauer der Westseite. © Klaus Backes

Die Schlossgasse gilt als älteste Straße der Stadt. Hier stehen die Höfe von Dienstmannen, die zur adeligen Burgbesatzung zählten. Das prachtvollste Gebäude aber ließ sich 1511 ein Grafensohn errichten, das Steinerne Haus. Weshalb glotzt der Wildschweinkopf von der Wand? „Weil der Jagdaufseher in dem Haus saß“, vermutet Christa Hollnagel. Und weshalb weist das spektakuläre Renaissance-Gebäude unübersehbare Spuren des Verfalls auf? „Wir hoffen, dass da bald etwas passiert“, lautet die Antwort. Von den Gesprächspartnern in Büdingen ist dazu keine eindeutige Auskunft zu bekommen. Eine kurze Recherche im Internet bringt Klarheit: Das Fürstenhaus steckt in finanziellen Problemen.

Am nächsten Tag steht die Besichtigung des Schlosses an. Nun ist es an der Zeit, die Familie näher vorzustellen, die die Burg erbaut und 850 Jahre lang erhalten hat: die Herren von Büdingen beziehungsweise die Grafen und späteren Fürsten Ysenburg-Büdingen. Gründer der um 1170 erbauten Wasserburg waren die Herren von Büdingen. Sie zählten zu den treuen Gefolgsleuten der staufischen Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) und Heinrich VI. Nach ihrem Aussterben kamen neben anderen Erben die von Ysenburg ins Spiel, die am Anfang des 14. Jahrhunderts die alleinige Herrschaft innehatten. Es waren die unruhigen Zeiten des Spätmittelalters. 1298 starb Heinrich von Ysenburg als Bannerträger König Adolfs von Nassau in der Schlacht bei Göllheim.

Das 16. Jahrhundert ist durch mehrere Besitzteilungen geprägt, und Graf Wolfgang Ernst führte 1543 die Reformation ein. Im Dreißigjährigen Krieg verbündete sich Graf Philipp Ernst mit den Schweden, was sich bitter rächen sollte: Die Kaiserlichen belagerten und plünderten 1634 Stadt und Burg. Von daher stammen wohl die Beschussspuren um Schießscharten des Großen Rondells und mindestens eines weiteren Turms. Seit 1990 ist der heute 85 Jahre alte Wolfgang-Ernst Fürst zu Ysenburg und Büdingen Chef des Hauses.

Schlechte Finanzlage

Die Führung durch das Schloss übernimmt Jana Habeland, die in 30 Jahren viele tausend Besucher betreut hat. Sie erzählt, dass die beiden Statuen der Wilden Männer vor dem Tor einmal im Monat ihre Position wechseln. „Sehen kann das aber nur, wer noch nie in seinem Leben gelogen hat.“ Betretene Gesichter. Im Innenhof, zu Fuß des 32 Meter hohen Bergfrieds, erläutert sie die Stile, die das Schloss prägen. Aus der Romanik hat sich die ringförmige Kernburg mit ihrem staufischen Buckelquadermauerwerk erhalten. Im Tympanon des Kapellenportals aus dieser Zeit beten zwei Männer das Kreuz an. Es soll sich um Herren von Büdingen handeln, die von einem Kreuzzug nicht zurückkehrten. Umbauten der Burg erfolgten in den Epochen von Gotik und Renaissance, während die Zeit des Barock wenig zum Gesamtensemble beitrug. „Damals war die Finanzlage schlecht“, erklärt Jana Habeland.

Die Alchemistenküche

Vom Hof geht es in das erste Gebäude. Die Burgführerin macht das Licht aus. „So dunkel war es damals in vielen Räumen“, sagt sie. Dunkel und kalt, aber beeindruckende Räume mit qualitätvollem Inventar, kein Gerümpel, wie man es manchmal auf Burgen sieht. Die Kemenate beherbergt eine Waffensammlung. Imposant die Bidenhänder, große zweihändig geführte Schwerter, auch zynisch „Gassenhauer“ genannt. Das Richtschwert kam vielleicht bei der Hinrichtung von „Hexen“ zum Einsatz.

Eine der vielen Froschfiguren in Büdingen. © Klaus Backes

Ebenfalls selten zu sehen: eine Alchemistenküche. Auch hier klappte es nicht mit der Herstellung von Gold. „Die Alchemisten waren aber überwiegend als Apotheker tätig“, betont Jana Habeland. Höhepunkt der Führung: die spätgotische Kapelle mit zeitgenössischem Chorgestühl. Ein Wunder, dass es nicht ebenfalls den Calvinisten zum Opfer fiel. Wer 600 Euro hinblättert, kann in der Kapelle heiraten.

Auch zwei private Räume stellt Jana Habeland vor: „Die Familie hat noch vor einigen Jahren hier gewohnt. Aber es ist teuer, solche Gebäude zu beheizen. Deshalb lebt die Familie meist außerhalb in einer Villa.“ Nach etwa einer Stunde geht es wieder ins Freie, ins Sonnenlicht, in die Wärme.

Wer ein Faible für Mittelalter und Frühe Neuzeit hat, findet hier in Büdingen sein Paradies. Reizvoll sind nicht nur die großen, bekannten Denkmäler, sondern auch die kleinen, versteckten: der Neidkopf mit herausgestreckter Zunge, der spätgotische Erker in der Schlossgasse mit seinen ausgefeilten Ornamenten und anderes mehr. Ein spannender Streifzug in die Vergangenheit.

Stadtführerin Christa Hollnagel vor dem Oberhof. © Klaus Backes

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