Zeitreise

Mannheimer Versöhnungskirche - spannendes Kapitel der Kirchengeschichte

Die evangelische Versöhnungskirche im Süden der Stadt Mannheim gilt als Paradebeispiel für den zeitgenössischen Sakralbau der 1960er Jahre. Ihre Entstehung ist ein spannendes Kapitel regionaler Kirchengeschichte

Von 
Konstantin Groß
Lesedauer: 
© Konstantin Groß

Mannheim. Nein, „hübsch“ im Sinne barocker Gotteshäuser wie in Bayern oder in Italien mit verschnörkeltem Zierrat ist sie nicht, die evangelische Versöhnungskirche im Mannheimer Stadtteil Rheinau. Interessant aber dennoch: In ihrem Stil, etwa dem Sichtbeton im Inneren, ist sie nämlich ein Paradebeispiel für modernen deutschen Kirchenbau der 1960er Jahre – und seiner heutigen Probleme. In Kürze wird ein Teil des Ensembles, das Gemeindehaus, abgerissen.

Doch die Kirchen an diesem Ort haben schon immer eine stürmische Geschichte. Und dazu müssen wir uns kurz zur Entstehung des Ortes Rheinau begeben. Diese erfolgt erst 1872 auf dem Reißbrett als Siedlung für die Arbeiter des gerade gebauten Hafens. 1900 zählt der Ort etwas mehr als 2000 Einwohner – 1076 Katholiken und 1003 Protestanten.

Gottesdienste im Wirtshaus-Saal

Betreut werden diese zunächst vom Pfarrer aus Oftersheim. Diese seltsame Zuordnung hat einen banalen Grund: Die bequeme Zuglinie von Rheinau nach Oftersheim – eine bessere Verbindung als nach Seckenheim, wozu die Rheinau damals gehört. Die Gottesdienste finden in der Schule statt, dem heutigen Kinderheim in der Relaisstraße. Als das Klassenzimmer zu klein wird, wechselt man in einen Wirtshaus-Saal – auf Dauer nicht akzeptabel. Eine Kirche muss her. Doch die Kosten sind für die kleine Gemeinde zu hoch.

Da kommt den Rheinauer Protestanten ein Zufall zur Hilfe. In der Schwetzingervorstadt ist die zwölf Jahre alte Friedenskirche zu klein, wird an eine Baufirma verkauft und soll abgerissen werden. Die Rheinauer hören davon und starten ein gewagtes Projekt: Mit Vertrag vom 31. Oktober 1903, nicht zufällig just der Reformationstag, erwerben sie das Gebäude zum Preis von 17 600 Mark und erteilen der Baufirma den Auftrag, es originalgetreu auf der Rheinau wieder aufzubauen.

Informationen über die Versöhnungskirche

Standort: Im Herzen des Stadtteils Rheinau östlich des Marktplatzes. Hier liegen Kirche, Gemeindesaal, Pfarrgarten und – auf der Straßenseite gegenüber – das Pfarrhaus.

Struktur: Die Versöhnungsgemein-de, deren Herz die Versöhnungskirche ist, ging 2019 auf in der Evangelischen Gemeinde Rheinau, zu der sich Kern-Rheinau, Pfingstberg-Casterfeld-Hochstätt und Rheinau-Süd zusammengeschlossen haben.

Personelle Leitung: Aus der Fusion folgt, dass die Gesamtgemeinde von einem Team aus den Vertretern der drei bisherigen Gemeinden geleitet wird. Pfarrer an der Versöhnungskirche war zuletzt Uwe Sulger, der mit Wirkung vom 1. August 2022 nach Wertheim wechselte. Seine Stelle wird erneut besetzt, wahrscheinlich wird dies im Frühjahr 2023 der Fall sein. Bis dahin fungiert der Pfarrer der Pfingstbergkirche, Hansjörg Jörger, als Leiter der Gesamtgemeinde.

Gottesdienste: Dem Fusionscharakter entsprechend, wechseln die Orte der Gottesdienste zwischen den drei Kirchen Versöhnung, Pfingstberg und Martin. Am kommenden Sonntag, 14. August, 10 Uhr, findet der Gottesdienst in der Versöhnungskirche statt, unter Leitung Pfarrer Jörgers.

Aktuelle Baumaßnahme: Derzeit wird der Abriss des Gemeindesaales vorbereitet – für den Neubau eines Kindergartens, der 2024 abgeschlossen sein soll. Dann sind auch die neuen, jedoch verkleinerten Gemeinderäume bezugsfertig.

Literatur: „Von der Mission zur Versöhnung. 100 Jahre Evangelische Kirche Mannheim-Rheinau“ (2004) von Konstantin Groß, 262 Seiten, für 10 Euro im Pfarrbüro erhältlich. -tin

Am 17. April 1904 wird der Grundstein zur Kirche gelegt – „als Zuflucht für die Betrübten und Gebeugten, ein Ort des Rates für die Verirrten und Ratlosen, eine Stätte des Segens für alle, die rings um sie herum ihre Wohnungen aufschlagen“, wie es heißt. 1907 folgt das Pfarrhaus, das diesem Zweck noch heute dient.

Die kleine Kirche verfügt über keinen Fußboden, sondern nur einen Estrich aus Zement. Auch eine Sakristei gibt es nicht, neben dem Kirchenschiff nur einen weiteren Raum, in dem ein alter Ofen steht. So manches Mal gerät im Winter der Talar des Pfarrers an die glühenden Eisenteile, wenn er ihn überstreift.

Geprägt von Persönlichkeiten

Fast vier Jahrzehnte lang leitet Ludwig Wilhelm Vath die Gemeinde. Zu seiner größten Herausforderung wird ab 1933 die NS-Zeit. Dabei ist er kein Oppositioneller, aber auch kein Gefolgsmann des Regimes.

Ganz anders als der, der 1940 sein Nachfolger wird: Friedrich Wilhelm Luger, seit 1933 Mitglied der NSDAP und mehrerer Unterorganisationen (NSKK, NSV). Im Spruchkammerurteil über ihn heißt es 1945: „Der Betroffene hat den Nationalsozialismus nicht nur durch seinen frühen Beitritt, mehr noch durch seine Stellung und sein Ansehen unterstützt.“ Er wird als Mitläufer eingestuft und zu 2000 Reichsmark Sühnezahlung verurteilt. Als Pfarrer in Rheinau bleibt er aber weiterhin im Amt, wird 1957 sogar Religionslehrer an der Mannheimer Gewerbeschule.

Das Innere – schlicht und gerade deshalb eindrucksvoll. © Konstantin Groß

Ein Kontrastprogramm liefert wiederum sein Nachfolger Martin Hirschberg, im Dritten Reich in der Bekennenden Kirche gegen die Nazis engagiert. 1957 kommt er auf die Rheinau. An ihm ist es, den Neubau der Kirche auf den Weg zu bringen.

Denn in den 1950er Jahren ist die Rheinau enorm gewachsen. Die Ortsteile Pfingstberg, Rheinau-Süd und Casterfeld werden eigene Gemeinden, Kern-Rheinau zählt 6000 Protestanten. Der Gottesdienstbesuch liegt bei durchschnittlich 263!

So entschließt sich die Gemeinde Anfang der 1960er Jahre zu einem Neubau. Den Auftrag erhält der renommierte Mannheimer Architekt Helmut Striffler, der zuvor bereits die Trinitatiskirche in der Innenstadt (1959) und die Jonakirche auf der Blumenau (1961) gestaltet. Er legt einen ambitionierten Entwurf vor.

Wie soll die neue Kirche heißen?

Das Gotteshaus hat einen unregelmäßigen Grundriss. Der Innenraum ist in einer Raumdiagonalen auf den Altar an der Nordostecke ausgerichtet. Doch prägnant wird der Bau durch den Sichtbeton. Außen wird dieser im Rahmen einer Betonsanierung in den 1980er Jahren überstrichen, innen aber besteht er bis heute. Der Bau gilt „als eine der provozierendsten Neuschöpfungen auf der Gemarkung Rheinau“, wie es später in einer Veröffentlichung der Gemeinde heißt. Dennoch stimmen die Verantwortlichen damals zu.

Als nicht einfach erweist es sich auch, einen Namen für die neue Kirche zu finden. Er soll, so legt die Gemeinde zu Beginn ihrer Suche fest, drei Ziele erfüllen: Verkündigungs-charakter besitzen, auch Jugendlichen leicht erklärt werden können und das „Apostolat des Protestantismus“ zum Ausdruck bringen.

Die 1962 abgerissene erste evangelische Kirche am Marktplatz. © Archiv Groß

Viele Namen kommen auf den Tisch. Natürlich „Wartburg-Kirche“ in Anlehnung an den Zufluchtsort Martin Luthers in Eisenach – wegen der vielen Neubürger in Rheinau, die zu 80 Prozent aus dem Osten stammen, nicht ohne Bezug zum Vorort; doch die sprachliche Assoziation zur „Wagenburg“ erscheint zu heikel. Auch die „Himmelfahrts-Kirche“ könnte zu Fehlinterpretationen einladen. „Johann-Sebastian-Bach-Kirche“ besitzt zwar den Reiz einer berühmten Persönlichkeit mit Bezug zum Protestantismus, jedoch ohne theologische Komponente.

In die engere Wahl kommen am Ende „Apostelkirche“ und „Versöhnungskirche“. In der entscheidenden Abstimmung unter den Ältesten der Gemeinde am 21. Mai 1963 siegt mit sechs zu drei die Versöhnungskirche. Denn: „Im Namen Versöhnungskirche schwingt für uns auch der Gedanke an die politische Verantwortung unseres Volkes und seine Zukunft in der Gemeinschaft der Völker im Westen und Osten.“

Die Urkunde der Grundsteinlegung vom 23. Juni 1963 formuliert noch stärker explizit politisch. Darin heißt es, „dass unsere Zeit, in der die Welt in zwei Machtblöcke – Ost und West – auseinanderzufallen droht, in der mehr vom Kalten Krieg als vom Frieden die Rede ist, in der aber auch ein großes Sehnen nach Verständigung in den Kirchen erwacht ist, die auf der Welt den Namen unseres Herrn Jesu Christi tragen, mehr als jedoch zuvor die Botschaft braucht: Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber.“

Schmuckloses Inneres

Wegen dieser Urkunde gibt es im Nachhinein übrigens mächtig Ärger. „Wenn Sie mir den Entwurf gezeigt hätten, hätte ich Sie auf folgende Fehler aufmerksam gemacht“, schreibt Dekan Schmidt vier Tage nach der Grundsteinlegung an Pfarrer Hirschberg und listet diese dann auf. So fehlen in der Urkunde Dr.-Titel mehrerer Beteiligter, dafür gibt es in ihr grammatikalische Fehler.

Am Ende fügt sich der Dekan ins Unvermeidliche und rettet sich in hintersinnigen Humor: „Schließlich wird ja auch nicht jemand zu unseren Lebzeiten diese Urkunden wieder zu Gesicht bekommen. Und wenn wir alle einmal gestorben sind, dann ist es wohl gleich, ob einer mit oder ohne Doktor im Grab liegt.“

Ohnehin sind andere Probleme drängender: Die Bauarbeiten gehen nur langsam voran, bis zum Schluss. Das in Berlin gegossene Bildwerk kann erst in der Nacht zum Tag der Weihe aufgestellt werden, weil der Güterzug an der Interzonengrenze tagelang aufgehalten wird. Frühzeitig trifft jedoch die Kanzelbibel ein, eine Spende von Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU), eines prominenten Vertreters des christlichen Widerstandes gegen Hitler, der in seiner Widmung den Namen der Kirche aufnimmt: „Lasset Euch versöhnen mit Gott“. Am 28. März 1965 wird die Kirche von Landesbischof Heidland geweiht.

Obwohl ein moderner Bau, ist er geeignet, die Festversammlung zu beeindrucken: Bis zu zwölfeinhalb Meter hoch ist die Decke, die zum Altar hin ansteigt. Die schmal empor strebenden Fenster stammen aus Chartres. Diese sind jedoch – neben dem von Hubertus von Pilgrim gestalteten Kruzifix – anfangs der einzige Schmuck, entsprechen damit dem Kern des Protestantismus. Für manche Gemeindemitglieder jedoch zu schmucklos. „Es wird sicher eine gewisse Zeit dauern, bis viele der Gottesdienstbesucher Zugang zu diesem Kunstwerk finden“, ahnt der damalige Pfarrer Gustav Löffler.

Löffler folgt 1964 noch inmitten der Bauarbeiten auf Martin Hirschberg, muss nun Aufbauarbeit im umfassenden Sinne leisten. Seine Idee, ein neues Pfarrhaus zu bauen, scheitert bereits an den zur Neige gehenden Finanzmitteln.

Sorge um die Zukunft

Denn die Zahl der Evangelischen geht dramatisch zurück. 2019 fusionieren die drei Gemeinden Rheinau-Mitte, Pfingstberg-Casterfeld-Hochstätt und Rheinau-Süd. Doch es bleibt das Thema Gebäudebestand. Immerhin sieht eine Konzeption der Gesamtkirchengemeinde im Frühjahr 2022 den langfristigen Erhalt der Versöhnungskirche vor, die seit 2008 offiziell auch als Kulturdenkmal gilt.

Ebenso wie der Gemeindesaal. Dennoch muss dieser derzeit dem Neubau des Kindergartens weichen, der von seinem bisherigen Standort im Jahre 2024 hierherziehen wird. Die Geschichte der Versöhnungskirche bleibt also in Bewegung.

Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen