Zeitreise

Der Mont Saint-Michel: Einst kamen Pilger, heute Touristen

Kloster, Festung, Kerker: Die Felseninsel Mont Saint-Michel vor der Küste der Normandie hat eine stürmische Geschichte. Zu der berühmten Abtei wurde im Sommer 1023 der Grundstein gelegt. Das 1000. Jubiläum wird derzeit in Frankreich groß gefeiert

Von 
Konstantin Groß
Lesedauer: 
Wie aus dem Felsen herausgewachsen: die Klosterburg Mont Saint-Michel an der Küste der Normandie, im Vordergrund die Fußgängerbrücke. © Konstantin Groß

Es ist der 5. Juni 2023. Der Mont Saint-Michel hat einen besonderen Besucher: Umgeben von einem großen Tross, ersteigt Emmanuel Macron die steilen Gassen des Klosterberges an der Küste der Normandie. Der Präsident der Französischen Republik kann schöne Bilder gebrauchen: In den Großstädten seines Landes rumort es. So zelebriert der Staatschef das 1000. Jubiläum der Grundsteinlegung der Abtei, nutzt seinen Auftritt, um – vom Aufstieg hörbar atemlos – in die Mikrofone seine Botschaft zu setzen: Mont Saint-Michel sei Symbol, wie Frankreich allen Herausforderungen widerstehe.

Mont Saint-Michel - ein Granitfelsen, 550 Millionen Jahre alt

Das kann man so sehen: Mont Saint-Michel steht fest in einer Bucht der Normandie, umspült von den stärksten Gezeiten Europas. Ein massiver Fels, auf ihm eine Abtei, deren Bau Jahrhunderte dauert. Eine Ikone der Architektur, geschaffen von Baumeistern, deren Können Experten bis heute fasziniert. Ein Kloster in Form einer Festung. Längst sind die Pilger durch Touristen ersetzt, rund drei Millionen pro Jahr, nach Eiffelturm und Versailles-Schloss die meisten in Frankreich.

Schon die Location ist außergewöhnlich. Ein Granitfelsen, 550 Millionen Jahre alt, einst Teil des Armorikanischen Massivs, damals so hoch wie die Alpen. Doch dieser Gebirgszug bestand aus Schiefer und erodierte im Laufe der Zeiten. Übrig blieb der Granitfelsen in Form eines Grabhügels. Zunächst trug er bei den Einheimischen denn auch den Namen Mont Tomb – Grabesberg.

Bischof Aubert von Avranches, der Erzengel und das Loch im Kopf

Der Legende nach bittet der Erzengel Michael im 8. Jahrhundert den Bischof Aubert von Avranches, ihm zu Ehren auf dieser Insel eine Kirche zu errichten. Doch Aubert gehorcht nicht. Erst als Michael ihm zum dritten Mal im Schlaf erscheint und mit dem Finger ein Loch in seine Schläfe bohrt, da wird der Kirchenfürst aktiv.

Besonders bei Ebbe wird die massive Befestigung sichtbar, die den Klosterberg umgibt und ihn im Mittelalter vor Eroberung geschützt hat. © Konstantin Groß

Legende? Fest steht, dass der Schädel des Bischofs, der heute in der Kathedrale von Avranches als Reliquie bewahrt wird, ein Loch aufweist – das jedoch gemäß medizinhistorischer Untersuchungen von einer zerebralen Zyste herrührt. Fest steht aber auch: Aubert lässt auf der Insel eine Kirche errichten, die am 16. Oktober 709 geweiht wird – dem Heiligen Michael.

Im 10. Jahrhundert folgt eine zweite, etwas größere, bald eine dritte, noch größere: Im Juni des Jahres 1023 legt Abt Hildebert II. den Grundstein für die jetzige Abtei. Sie stellt die Baumeister vor riesige Herausforderungen: Denn die Grundfläche der Insel ist sehr klein. Die Gebäude müssen daher vertikal untergebracht werden, auf drei Ebenen.

Der Baustoff, Granit, wird auf den Nachbarinseln gebrochen und auf dem Wasserweg zum Berg geschafft. Granit ist wetterbeständig, aber schwer zu bearbeiten; daher fehlt Fassadenschmuck. Nach 61 Jahren steht die Abtei. Doch gewerkelt wird an ihr noch Jahrhunderte lang.

Mehr erfahren über den Mont Saint-Michel



Lage: Der Mont Saint-Michel ist eine kleine felsige Insel im Wattenmeer vor der nordwestlichen Küste Frankreichs, der Normandie, einen Kilometer entfernt vom Festland.

Bebauung: Die Insel ist 55 000 Quadratmeter groß, baulich geprägt von der Abtei Saint-Michel, umfasst aber auch viele Souvenirläden, Restaurants, Hotels (bekanntestes: „Mère Poulard“) und sogar ein Postamt.

Bevölkerung: Die Insel zählt 27 ständige Einwohner, in der Urlaubszeit kommen 1000 Saisonkräfte hinzu (Bedienungen, Fremdenführer etc.)

Besuch: Entweder mit gebuchter Führung oder per privater Anreise mit regulärem Linienbus. Ankunft am zentralen Besucherzentrum, 2,5 Kilometer entfernt vom Mont. Von hier aus verkehren kostenlose Pendelbusse, die 200 Meter vor dem Mont halten. Man kann die Strecke aber auch zu Fuß gehen (45 Minuten).

Barrierefreiheit: Ein Riesenproblem! Rollstühle und Kinderwagen können wegen der steilen Gassen und Treppen nicht genutzt werden.

Gezeiten: Mont Saint-Michel hat die stärksten Gezeiten Europas und die fünftstärksten der Welt; der Unterschied von Höchst- und Niedrigstand des Wassers (Tidenhub) beträgt 15 Meter. Aufenthalt im Watt ist nur mit Führung erlaubt, da extrem gefährlich. Im Treibsand sinkt man bis man zur Taille ein und bleibt leicht stecken, wenn die Flut kommt.

Besitz/Verwaltung: Die Abtei (Eintritt: 11 Euro) gehört dem Staat. Betrieben wird das Kloster von der „Gemeinschaft von Jerusalem“, einem Orden, der belebte Orte sucht. Die Seelsorge obliegt seit 2022 der Gemeinschaft St. Martin. -tin

Mont Saint-Michel hat eine militärstrategische Bedeutung

Im Mittelalter wird sie Ziel großer Pilgerströme. Patron ist immerhin der Heilige Michael, verehrt und gefürchtet. Denn er hält jene Waage, mit der am Tag des Jüngsten Gerichtes die Seelen gewogen werden; er entscheidet also, wer ins Paradies kommt. Pilger wollen ihm huldigen, um sich seiner Gunst zu versichern. Sie strömen hoch zum Kloster, können es schon sehen, aber zunächst nicht erreichen – bis das Wasser weicht, quasi das Meer sich teilt, das auserwählte Volk passieren lässt. Welch geradezu biblische Szenerie!

Doch der Ort hat nicht nur religiöse Bedeutung, sondern auch militärstrategische, gerade im ewigen Kampf Frankreichs gegen seinen mittelalterlichen Erzfeind England. Im „Hundertjährigen Krieg“ zwischen beiden (1337-1453) ist die daher durch eine Mauer befestigte Klosterinsel hart umkämpft. Dank der steilen Hänge bleibt sie für die Engländer jedoch uneinnehmbar: Bei Flut können keine Boote anlegen, bei Ebbe stranden sie auf dem Sand davor und werden hilfloses Ziel der Soldaten auf den Wehrtürmen.

Mehr zum Thema

Zeitreise

Neustadt in der Nazizeit - Das Zentrum des Terrors

Veröffentlicht
Von
Klaus Backes
Mehr erfahren
Zeitreise

Überfall auf den Postzug nach London - Ihre Majestät bestohlen

Veröffentlicht
Von
Konstantin Groß
Mehr erfahren
Zeitreise

Die Mannheimer Burg auf dem Rhein

Veröffentlicht
Von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren

Bleibt nur eine Möglichkeit: Aushungern. 1423 erobern die Engländer die drei Kilometer entfernte Insel Tombelaine und belagern den Mont jahrelang – auch dies vergebens. Der Mont bleibt die einzige Festung in der Normandie, die den Engländern Stand hält, wird damit zum Symbol für die Kraft Frankreichs – woran nun Macron rhetorisch anknüpft.

In den religiösen und politischen Wirren danach geht es mit dem Kloster dennoch bergab. Die am 14. Juli 1789 beginnende Revolution ist explizit klerusfeindlich, verbietet Klöster, die Benediktiner fliehen aus der Abtei. Sie wird Kerker für politische Gefangene, zu diesem Zweck im Refektorium eine Zwischendecke eingezogen, erhält den zynischen Namen Mont-Libre – Berg der Freiheit.

Derweil verfällt die Anlage, bis im Zuge der Romantik dieses Juwel wiederentdeckt wird, von Literaten wie Victor Hugo. 1863 endet die Nutzung als Gefängnis, 1874 wird der Mont zum nationalen Denkmal erhoben, 1877 ein Damm mit Straße gebaut.

Im Zweiten Weltkrieg unter wechselnden Herren: 1940 die Deutsche Wehrmacht ... © Familie Brougher

Am 1. August 1944 betreten die Alliierten den Mont Sain-Michel

Wie durch ein Wunder übersteht der Mont sogar den Zweiten Weltkrieg fast unversehrt. Nach Hitlers Sieg über Frankreich gehört er zu jenem Gebiet, das im Juni 1940 von der Wehrmacht besetzt wird. Auf der Spitze der Abtei wird eine Flugzeug-ortung installiert, das kleine Hotel „Mère Poulard“ requiriert, der Berg Ausflugsziel der Besatzungsmacht und von Deutschen aus dem Reich.

In die deutsche Befestigung der Normandie gegen die lange erwartete Invasion der Alliierten aber wird der Mont mangels Bedeutung und personeller Kräfte nicht einbezogen. „Süd- und Westteil der Bucht Mont Saint-Michel müssen völlig unbesetzt bleiben“, heißt es im Kriegstagebuch der Siebten Armee vom 27. März 1944. So bleibt die Abtei erhalten. Nur beim Abzug der Wehrmacht kann es ein Soldat nicht lassen, mit seinem MG die Statue des Bischofs Aubert zu zerstören.

... ab 1944 die Amerikaner mit Freeman Brougher als erstem. © Familie Brougher

Am 1. August 1944 betritt US-Soldat Freeman Brougher als erster Alliierter den Mont – mit zwei Reportern. Gault MacGowans Story in der „New York Sun“ über die Befreiung trägt die Schlagzeile „Mont Saint-Michel Hails Its Liberator“. Paul Holts Beitrag für den „London Daily Express“ erscheint jedoch nie; seinen Vorgesetzten in England ist das Ereignis „zu amerikanisch“ geprägt.

Dem ist in der Tat so. Ernest Hemmingway kommt als Kriegsreporter, gemeinsam mit dem legendären US-Kriegsfotografen Robert Capa. Für US-General Patton hat der Berg sogar persönliche Bedeutung; 1913 war er mit seiner Frau Beatrice hier.

Bedrohte Insellage: Der Berg ohne Meer? Undenkbar!

Den Krieg übersteht die Anlage also, doch in den 1990er Jahren wird eine andere Gefahr offenbar: Versandung. Die Strömung ist bei Flut stärker als bei Ebbe, nur ein Teil der Sedimente wird daher ins Meer zurückgespült. Der Damm verstärkt diese Entwicklung, da er wie ein Riegel für das Meer in der Bucht wirkt.

Das hat Folgen: Immer seltener erreicht das Wasser den Berg, unterhalb von ihm entstehen bereits erste Wiesen. Doch Mont Saint-Michel ohne Meer – undenkbar! Seine spirituelle Bedeutung ist an seine Insellage gebunden. Es ist der feinsinnige Staatspräsident François Mitterrand, der dies erkennt, und „die Wiederherstellung des maritimen Charakters“ auf den Weg bringt.

Nötig ist nun eine raffinierte technische Lösung, um den Sand aus der Bucht zu halten. Sie zu finden dauert. Erst 2006 beginnt der Bau des Gezeitendamms: Die Sperre lässt bei Flut in den Fluss Couesnon Meerwasser, das bei Ebbe durch Öffnen mit Druck abgelassen wird und Sand und Sedimente aus der Bucht trägt. 2014 wird zudem der alte Damm abgebrochen und durch eine lockere Stelzenbrücke ersetzt, unter der das Wasser frei hindurchfließen kann.

Das 200 Millionen Euro teure Projekt zeitigt Erfolg: Bereits in den ersten zehn Jahren nach Eröffnung des Gezeitendamms erhält das Meer gut 60 Hektar Land zurück. Immer öfter wird der Mont wieder zur komplett von Wasser umspülten Insel, darf damit seinen Charakter bewahren.

Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen