Der echte „Zauberberg“

Die literarische Welt feierte in diesem Jahr den 100. Geburtstag des gleichnamigen Romans von Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann. Zu den Orten, die ihn zu seinem Werk inspirierten, gehört das schweizerische Davos zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine Spurensuche vor Ort

Von 
Konstantin Groß
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Um es gleich vorweg zu sagen: In diesem Beitrag geht es nicht um die literarische Bedeutung von Thomas Mann und seinem „Zauberberg“. Die wird anlässlich des 100. Jahrestags dieses Werkes in den zurückliegenden Wochen in den Kulturspalten vieler Zeitungen, auch dieser, ausführlich und fachkundig gewürdigt. Nein, hier soll es um die historischen Stätten gehen, die im Zusammenhang mit diiesem Jahrhundertroman stehen. Und die liegen im Davos des beginnenden 20. Jahrhunderts mit der Geißel jener Zeit, der Tuberkulose.

Diese durch Bakterien übertragene Infektionskrankheit gilt damals als unheilbar. Das einzige Mittel, das der Medizin bleibt, ist langes ruhiges Liegen in guter Luft. Und die gibt es vor allem im Hochgebirge. Davos im äußersten Osten der Schweiz ist ein Ort, der diesen Vorteil maximiert: Es liegt in einem breiten Tal, das von schützenden Bergen umgeben wird und den Sonnenstrahlen dadurch ein Höchstmaß an Raum gewährt.

Ein gebürtiger Mannheimer macht Davos zum Kurort

Es ist der Lungenfacharzt Alexander Spengler, der dieses Potenzial hebt. Geboren 1827 in Mannheim, wird er als Anhänger der 1848er Revolution in Baden verurteilt, kann jedoch in die Schweiz fliehen. In Zürich studiert er Medizin, legt in Chur das Staatsexamen ab und lässt sich im Herbst 1853, mit 26 Jahren, als Ortsarzt in Davos nieder. Hier setzt er seine Therapien um: die Liegekuren. 1865 kommen die ersten Patienten.

Und es werden immer mehr, aus ganz Europa. Erst recht, als Davos 1890 einen Eisenbahnanschluss erhält. Sanatorien schießen aus dem Boden. Ihr Betrieb wird nun wirtschaftlich interessant. Auch für den Unternehmer und Hotelier Willem Jan Holsboer. Als Standort seiner Investition wählt er die Schatzalp-Wiese, wo die Bedingungen für eine Liegekur besonders ideal sind: Hier gibt es tagsüber eine Stunde früher Sonne und abends eine Stunde später Schatten als im Dorf. Die Wiese liegt nämlich an der Sonnenseite des Tals, 300 Meter über dem Dorf und 1865 Meter über dem Meeresspiegel.

Um das Grundstück zu erschließen, muss zunächst eine Drahtseilbahn gebaut werden. Auf einer Länge von 718 Metern bewältigt sie eine Steigung von bis zu 47,7 Prozent – bis heute. Sodann wird das Sanatorium gebaut – nach den Plänen zweier junger Züricher Architekten als erstes Großgebäude in Eisenbetonkonstruktion. Die tiefen, nach Süden ausgerichteten Balkone bieten viel Schutz vor Zugluft und ein zeitliches Optimum an Sonneneinstrahlung.

Europas modernste Tuberkulose-Heilstätte

Am 21. Dezember 1900, 11 Uhr, steigt die Eröffnung dieser Einrichtung unter dem Namen „Schatzalp“: mit dem Segen des Dekans, einem Ständchen der Kurkapelle, abends mit Feuerwerk. Die Schatzalp gilt nun als die fortschrittlichste Heilstätte für Tuberkulose in ganz Europa. Chefarzt wird Luzius Spengler, der Sohn des Kurort-Gründers. Alles ist darauf ausgelegt, das Gebäude hygienisch, also staubfrei zu halten. Statt Teppichen gilt es Linoleum-Beläge. Böden und Möbel werden täglich mehrmals desinfiziert.

Ungeachtet dieser Hygienebedingungen bietet das Haus Luxus. „Morbidität verbindet sich mit höfischer Noblesse“, formuliert die Publizistin Julia Benkert treffend. Vor allem Angehörige der russischen Aristokratie wissen das zu schätzen. Auch Kaiser Wilhelm II. lässt sich von 1905 bis 1908 drei Zimmer reservieren; er wird sie aber nie beziehen.

1911 eröffnet weiter unten am Hang, auf „nur“ 1630 Metern über dem Meeresspiegel und 100 Meter vom Dorfzentrum entfernt, das Waldsanatorium von Friedrich Jessen. Der Pfarrerssohn aus Westerhever an der Nordseeküste beginnt seine Laufbahn als Schiffsarzt. 1901 erkrankt seine Frau Gussi an Tuberkulose und kommt zum Kuraufenthalt nach Davos. Um ihr die gute Luft dauerhaft zu ermöglichen, zieht Jessen 1904 mit der Familie ganz her und eröffnet in einer Villa ein kleines Sanatorium; den Tod seiner Frau 1907 kann er nicht abwenden. Doch die Hilfe für Lungenkranke wird fortan zu seiner Lebensaufgabe. Unterstützt durch den Baron Fritz von Gemmingen, dessen Frau er behandelt, eröffnet er am 4. Juli 1911 ein Sanatorium für 90 Patienten.

Als Thomas Manns Ehefrau Katia 1912 an der Lunge erkrankt, da kommt sie zu Jessen. Von März bis September nimmt sie an seiner Liegekur teil. In zahlreichen, heute nicht mehr erhaltenen Briefen, berichtet sie ihrem Mann vom Alltag.

Den lernt Thomas Mann vier Wochen lang auch selbst kennen. Vom 15. Mai bis 12. Juni 1912 logiert er in einer Villa unterhalb des Sanatoriums, leistet seiner Frau Gesellschaft bei ihren täglichen Liegekuren auf dem Balkon des Hauses. Den Sanatoriumsleiter Jessen wird er – zu dessen Unmut – im „Zauberberg“ in der Figur des geschäftstüchtigen Professors Hofrat Behrens verewigen.

Aber auch die Schatzalp lernt Mann kennen. Die 2,4 Kilometer von Jessens Sanatorium hierher erwähnt er sogar im „Zauberberg“, als er im dritten Kapitel den Spaziergang seines Protagonisten Hans Castorp mit dessen Neffen Joachim Ziemßen beschreibt: „Der Weg, den sie einschlugen, leitete sie leicht ansteigend nach links an der Rückseite des Sanatoriums vorbei, der Küchen- und Wirtschaftsseite, wo eiserne Abfalltonnen an den Gittern der Kellertreppen standen, lief noch ein gutes Stück in derselben Richtung fort, beschrieb dann ein scharfes Knie und führte steiler nach rechts hin den dünn bewaldeten Hang hinan. Es war ein harter, rötlich gefärbter, noch etwas feuchter Weg.“

In beiden Sanatorien trifft er auf jene skurrile Vorkriegsgesellschaft, die er in seinem „Zauberberg“ abbildet. 1913 beginnt er mit dieser Arbeit, der Erste Weltkrieg zwingt ihn 1915 zur Unterbrechung. Erst 1920 setzt er sein Werk fort. Ende November 1924 erscheint es im Fischer-Verlag – und bildet nach den „Buddenbrooks“ den i-Punkt zu seinem literarischen Weltruhm, für den er 1929 den Literaturnobelpreis erhält.

In Davos jedoch ist man gar nicht begeistert, „weil Thomas Manns ,Zauberberg’ den Ort in Verruf gebracht“ hat, wie der Verkehrsverein beklagt. So beauftragt er 1936 Erich Kästner mit einem „heiteren Roman über Davos“. Das Werk mit dem Wortspiel „Zauberlehrling“ als Titel bleibt jedoch ein Fragment ohne die gewünschte Breitenwirkung.

Der mysteriöse Großfürst in Zimmer 309

Und was wird aus den Locations? Die Schatzalp muss schwere Zeiten überstehen. Ab und an kommen noch berühmte Gäste wie Großfürst Dimitri Pawlowitsch Romanow, der Cousin von Zar Nikolaus, 1916 beteiligt an der Ermordung des berüchtigten Rasputin. Nach der Oktoberrevolution 1917 schlägt er sich als Champagner-Vertreter durch.

Die Affäre mit Coco Chanel ist eine seiner vielen Frauengeschichten. Sein wilder Lebensstil schlägt sich trotz seiner sportlichen Konstitution – noch 1912 nimmt er an den olympischen Reiterwettbewerben in Stockholm teil – in seiner Gesundheit nieder: In den 1930er Jahren erkrankt er an Tuberkulose. Rechtzeitig vor der Besetzung von Paris durch die Deutschen flieht er in die Schweiz nach Davos. Für zweieinhalb Jahre logiert er im Schatzalp-Zimmer 309. Dort stirbt er am 5. März 1942 unter mysteriösen Umständen, wird zunächst in Davos, 1958 auf der Insel Mainau bestattet.

Durch die Entwicklung von Medikamenten gegen Tuberkulose geht nach dem Kriege die Epoche der Lungenheilanstalten zu Ende. Die Sanatorien müssen sich neu erfinden. Das Waldsanatorium wird 1957 Hotel und mehrmals umgebaut. Als Katia Mann es 1968 noch einmal besucht, erkennt sie es kaum wieder.

In der Schatzalp jedoch, seit 1953 ebenfalls Hotel, bleibt die Architektur erhalten. Und der Ruhm: Ihr Foto ziert die meisten Veröffentlichungen zum ewigen Thema „Zauberberg“.

Infos und Tipps zur Schatzalp und zum Waldhotel

Lage: Davos liegt im Osten der Schweiz, von Mannheim knapp 500 Kilometer Luftlinie entfernt. Anfahrt: mit dem Auto fünf Stunden. Mit dem Zug z. B. 6.33 Uhr Abfahrt Mannheim, 11.47 Uhr Umsteigen in Landquart, 12.52 Uhr Ankunft Davos.

Schatzalp“: Übernachtung DZmF, bergseitig, ab 270 Euro. Jeweils vom 1. 4. bis Mitte Juni geschlossen.

Ausstattung: Historischer Zuschnitt außen und innen (große Balkone auf den Zimmern) erhalten. Speisesaal und Rezeption erinnern an die Zeit um 1912. In Betrieb ist auch noch der von dunklen Eisengittern umgebene Lift, mit dem einst die Särge verstorbener Patienten – diskret während des Mittagessens – zum Hinterausgang und von dort aus auf der Rodelbahn ins Tal transportiert wurden.

Filmkulisse: für Kinofilme wie das französische Liebesdrama „Die Frau im Mond“ (2016) oder die für einen Oscar nominierte Tragikomödie „Ewige Jugend“ (2015) mit Michael Caine und Jane Fonda sowie für die Fernsehproduktion „Davos 1917“. Für sie gedreht wurde im Außenbereich und auf der Terrasse, im historischen Lift und an der Rezeption. Die aufwendige Verfilmung des Romans von 1982 mit Rod Steiger wurde übrigens nicht in der Schatzalp, sondern im Hotel Leysin am Genfer See gedreht.

Waldhotel: Heute Vier-Sterne-Hotel (www.waldhotel-davos.ch). DZ ab 100 Euro. Mehrmals umgebaut und erweitert, so dass das ursprüngliche Erscheinungsbild als Sanatorium im Innern nicht mehr zu erkennen ist.

Katia Manns Zimmer (von 1912): Es besteht nicht mehr. Ein anderes Zimmer wurde aber originalgetreu nachgebaut und ist zu besichtigen. -tin

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