Man hört viel Englisch auf der französischen Burg Chinon. Die Insulaner folgen den Spuren ihrer berühmten Könige aus dem Hause Plantagenet, die hier Familiendramen aufführten, die selbst ein Shakespeare nicht besser hätte erfinden können. Für die französische Geschichte hat die Burg ebenfalls enorme Bedeutung.
Im 10, Jahrhundert leben hier die Grafen von Blois. Im 11. Jahrhundert werden sie durch die Grafen von Anjou verdrängt. Geoffrey V. nimmt den Spitznamen „Plantagenet“ an, der sich auf eine Ginsterpflanze bezieht, deren Zweige er an seinem Hut zu tragen pflegt (lateinisch planta genista). Für die rasante Karriere der Anjous sorgt sein Sohn Heinrich II. Als er 1154 das Königreich England erbt, erstreckt sich sein Reich von Schottland bis zu den Pyrenäen.
Chinon richtet Heinrich II. als Zentrum seiner Besitzungen auf dem Kontinent ein und als königliche Schatzkammer. Er erweitert die alte Burg um einen Palast. Hier spielen sich wichtige Kapitel der Familientragödie des Hauses ab. Zu ihrem Weihnachtshof 1172 laden Heinrich II. und seine berühmte Gattin Eleonore von Aquitanien auf Burg Chinon ein. Diese königliche Veranstaltung hat wenig mit Besinnlichkeit zu tun. Natürlich feiert man die Geburt Christi, aber auch rauschende Feste. Der Hochadel gibt sich ein Stelldichein – sehen und gesehen werden.
Doch viel Freude kommt nicht auf. Denn Kronprinz Heinrich feiert in der Normandie, ein Symbol des Zerwürfnisses zwischen Vater und Sohn. Er hegt Groll gegen den König, der ihm keine Verantwortung überträgt, einen Teil des riesigen Reiches zu regieren. Auch seine Brüder Richard und Gottfried beteiligen sich an der Verschwörung, ebenso Königin Eleonore. Der offene Bruch ereignet sich in der Nacht vom 5. auf den 6. März 1173 in Chinon. Heinrich junior stiehlt sich mit seinen engsten Vertrauten aus der Burg, um den französischen König zu treffen, der Auftakt zur Rebellion. Heinrich II. lässt seine Gattin zuerst in Chinon festsetzen, später in England unter Hausarrest stellen.
Kämpfe und Versöhnung wechseln sich ab
Die Kämpfe gehen hin und her, abgelöst von Phasen der kurzzeitigen Versöhnung. Schwer krank zieht sich der geschlagene Heinrich II. schließlich im Frühjahr 1189 mit wenigen Getreuen nach Chinon zurück. Der König kann das Bett nicht mehr verlassen. Er muss erfahren, dass sich auch sein Lieblingssohn Johann von ihm abgewandt hat. In der Nacht zum 6. Juli stirbt Heinrich II. unter furchtbaren Schmerzen. „Ein Strom klumpigen Blutes quoll aus Nase und Mund“, wird überliefert. Eine letzte Schmach: Seine Diener berauben den Toten.
Da seine älteren Brüder mittlerweile verstorben sind, wird Richard König. Wegen seiner Tapferkeit trägt er den Beinamen „Löwenherz“. Er beteiligt sich am Dritten Kreuzzug, beleidigt dabei den österreichischen Herzog Leopold V., wird auf der Rückreise in dessen Herrschaftsbereich gefangen und an den deutschen Kaiser Heinrich VI. ausgeliefert. Erst im Februar 1194 kommt Richard gegen Zahlung eines immensen Lösegelds frei. In Chinon trifft er sich letztmals mit seiner Mutter Eleonore. Am 26. März 1199 stirbt Löwenherz bei der Belagerung eines unbedeutenden Ortes durch einen Armbrustbolzen.
Obwohl sich Richard wenig um England kümmert und das Aufbringen seines Lösegelds die Finanzen ruiniert, ist er im Inselreich noch heute populär. Ein Grund, weshalb viele Briten nach Chinon und zur ehemaligen Abtei Fontrevraud pilgern, wo Heinrich II., Eleonore und Richard ihre letzte Ruhe fanden. Nach dem Tod Richards eilt sein Bruder und Nachfolger John nach Chinon, um sich den Staatsschatz zu sichern. Im August 1200 heiratet er auf der Burg Isabella von Angouleme. Sein Krieg gegen König Philip Augustus von Frankreich verläuft katastrophal. Im Herbst 1204 beginnen die Franzosen mit der Belagerung von Chinon, das nach neun Monaten fällt. Die englische Herrschaft über die Burg ist beendet.
Der Sieger lässt die Schäden reparieren und die Festung verstärken, unter anderem durch den Coudray-Turm, in dem rund ein Jahrhundert später König Philipp IV. von Frankreich führende Männer des Templerordens gefangen hält. Den Orden gründet der Adelige Hugo von Payens um das Jahr 1120 mit acht weiteren Rittern in Jerusalem. Ihr Hauptquartier liegt am Standort des verschwundenen alttestamentarischen Tempels, daher der Name.
Ihre wichtigste Aufgabe sehen sie im Schutz der Pilger. Die Kombination aus bewaffnetem Kampf und Mönchtum stößt zunächst auf Widerstand. Eine Wende bringt die Fürsprache des berühmten Zisterziensers Bernhard von Clairvaux. Er singt ein Loblied auf den Orden. Während „normale“ Ritter aus Habgier kämpften, töteten die Templer die Feinde Christi, was keine Sünde sei. Bernhard lobt ihre Abkehr vom Überfluss teilweise mit kuriosen Argumenten: „Niemals sind sie gekämmt, selten gewaschen, vielmehr borstig, weil sie die Haarpflege vernachlässigen, von Staub besetzt.“ Demnach müsste man die Templer von weitem gerochen haben.
Nun beginnt eine Erfolgsgeschichte. 1139 nimmt der Papst den Orden unter seinen Schutz. Die Templer erhalten unzählige Schenkungen in Europa, aus deren Gewinnen sie ihren Einsatz im Heiligen Land finanzieren. Sie erweisen sich als geschickte Unternehmer und Pioniere des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Die Templer sind berühmt für ihre Tapferkeit, erleiden bei vielen Schlachten hohe Verluste. Ihr Fanatismus schadet aber oft der christlichen Sache. Nach dem Fall von Akkon 1291 und damit dem Ende des letzten Kreuzfahrerstaates sinkt der Stern des Ordens: Er hat keine Aufgabe mehr. Den Johannitern dagegen gelingt die Gründung eines Staates auf der Insel Rhodos.
König Philipp IV. von Frankreich, genannt der Schöne, wird zum Henker des Ordens. Vermutlich will der stets von Geldnöten geplagte Monarch an die Schätze der Templer kommen. Zudem möchte er den Papst demütigen, dem die alleinige Gerichtsbarkeit über den Orden zusteht. Im Oktober 1307 lässt Philipp die Templer verhaften. Die Vorwürfe: Leugnung von Christus, Spucken auf das Kreuz, Homosexualität und mehr. Sozusagen die Standardanklagen gegen Ketzer. Unter der Folter kommen Geständnisse zustande, die später oft widerrufen werden.
Über mehrere Monate sitzen hochrangige Templer, darunter Großmeister Jacques de Molay, im Kerker der Burg Chinon. In den Wänden des Coudray-Turms sollen sie die 1860 entdeckten Ritzzeichnungen hinterlassen haben: Engel, Kreuze, geometrische Figuren und anderes mehr. Viele Templer werden als Ketzer verbrannt, im März 1314 auch der Großmeister. Er soll der Legende nach seine Peiniger verflucht und ihnen ein baldiges Ende prophezeit haben: „Gott wird unseren Tod rächen.“ Tatsächlich sterben Papst und König noch im gleichen Jahr.
Auch im Hundertjährigen Krieg (1337 bis 1453) spielt Chinon eine wichtige Rolle. Kronprinz Karl wählt die Burg 1427 zu seiner Residenz, denn in Paris herrschen die Engländer, ebenso in Reims, dem traditionellen Krönungsort. Die Plantagenets halten nämlich nach wie vor an ihren Herrschaftsansprüchen über Frankreich fest, wollen die Königskrone.
Jungfrau von Orleans kommt zu Besuch
Die Lage des Kronprinzen scheint hoffnungslos, doch dann klopft 1429 eine ungewöhnliche Besucherin an die Tore von Chinon: das Bauernmädchen Jeanne d’Arc, besser bekannt als Jungfrau von Orleans. Sie behauptet, Botschaften vom Erzengel Michael und Heiligen zu erhalten, um die Engländer aus Frankreich zu vertreiben und verspricht, die belagerte Stadt Orleans zu entsetzen, ebenso den Krönungsort Reims zu erobern. Tatsächlich zieht sie mit französischen Truppen vor Orleans und verjagt die Feinde. Eine Wende des Kriegs: Denn nun glauben die Franzosen, dass Gott auf ihrer Seite kämpft. Reims wird erobert, Karl VII. gekrönt. Doch die Einnahme von Paris scheitert, und bald danach gerät Jeanne d’Arc in Gefangenschaft. Die Engländer klagen sie der Ketzerei an und lassen sie am 30. Mai 1431 verbrennen. Eine späte Rehabilitierung: 1920 erfolgt die Heiligsprechung der Jungfrau von Orleans.
Die ruhmreichen Zeiten von Chinon sind vorüber, und 1628 verfügt König Ludwig XIII. den Abriss, da die Festung ihre strategische Bedeutung verloren hat. Dazu kommt es zwar nicht, aber die Anlage verfällt nach und nach, dient den Menschen der Region als Steinbruch. 1854 wird sie schließlich unter Schutz gestellt.
Frankreich ist mit Chinon in der Vergangenheit nicht gut umgegangen. Was hat von den Stätten der dramatischen Geschehnisse die Zeiten überdauert? Vom Palast Heinrichs II. existieren lediglich Fundamente, die zwischen 2003 und 2005 ausgegraben wurden. Von der großen Halle des königlichen Hauses, in der der Kronprinz Jean empfangen hat, blieb nur der Westgiebel. Ein anderer Teil des Gebäudes steht stark restauriert da, beherbergt rekonstruierte Räume mit Ausgrabungsfunden, eine Ausstellung zu Jean d’Arc und anderes mehr. Etliche Türme laden zum Erforschen ein. Filme, Multimediaterminals und 3D-Rekonstruktionen sollen das Vergangene erlebbar machen. Kein Ersatz für das Verschwundene, aber immerhin so anschaulich, dass ein Besuch lohnt.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/leben/erleben_artikel,-erleben-buehne-vieler-koenigsdramen-_arid,2237996.html