Befreiung der Metropole vor 80 Jahren

„Brennt Paris?“

Louvre, Notre-Dame, Invalidendom, Sacre-Coeur – nach dem Willen Hitlers sollte die gesamte französische Hauptstadt 1944 zerstört werden. Doch der deutsche Stadtkommandant von Choltitz hintertreibt diesen Befehl: Nahezu unversehrt wird die Metropole befreit – vor genau 80 Jahren

Von 
Konstantin Groß
Lesedauer: 
Zwei Millionen Pariser sollen es sein, die am 26. August 1944 auf den Beinen sind, als die siegreichen Truppen vom Arc des Triomphe aus über die Champs-Elysées paradieren. Die französische Hauptstadt ist befreit. © Amt des Staatspräsidenten, Paris

Paris. Paris-Besuchern begegnen sie auf Schritt und Tritt, an unzähligen Hauswänden: Marmortafeln mit den Namen derer, die an der betreffenden Stelle den Tod gefunden haben, das Datum gelegen jeweils zwischen dem 19. und 26. August 1944, dem Kampf zur Befreiung der Hauptstadt von den Deutschen. Kein Ereignis des Krieges ist in Frankreich so präsent wie dieses vor 80 Jahren. An diesem Wochenende wird daran erinnert.

Rückblende: Zwei Tage, nachdem Hitler am 1. September 1939 Polen überfällt, erklären die mit Warschau verbündeten Franzosen Deutschland den Krieg. Und verlieren ihn: Im Juni 1940 muss Frankreich kapitulieren und wird geteilt: Im Süden entsteht mit der Hauptstadt Vichy eine Hitler-hörige Regierung unter dem greisen Philippe Petain, die Wehrmacht selbst besetzt den Norden des Landes – mit Paris.

Es wird eine Schreckensherrschaft. 43 000 Pariser Juden werden deportiert (die letzten am 15. August 1944), 34 000 von ihnen ermordet, im Gefängnis Mont-Valerien mehr als 4500 Widerständler hingerichtet. Die Avenue Foch 74 und die Rue Saussaies 9 werden Adressen des Leidens: Aus diesen Dienststellen der Gestapo sind die Schreie der Gefolterten bis auf die Straße zu hören.

Die deutsche Besatzung ist eine tägliche Demütigung

Doch schon der Alltag ist eine permanente Demütigung für die Bevölkerung: Auf dem Eiffelturm flattert die Hakenkreuzflagge, so wie vor Hotels, öffentlichen Gebäuden und Hunderten requirierter Häuser. Gut 200 Denkmäler werden demontiert, eingeschmolzen und zu Granathülsen. Hitlers Paladin Hermann Göring bereichert sich an mehr als 4000 Kunstwerken der Galerien und Museen, vor allem des Louvre. Die Besatzer genießen ein süßes Leben, während die Bevölkerung darbt.

Der Befreiung gehen schwere Straßenkämpfe voraus, wie diese Szene aus einem Originalfilm zeigt, der im Befreiungs-Museum zu sehen ist. © Konstantin Groß

Am 6. Juni 1944 keimt Hoffnung: Die Alliierten landen in der Normandie. Doch der US-Oberbefehlshaber Eisenhower will Paris, für ihn ein „Tintenfleck auf der Karte“, umgehen und direkt zum Rhein vorstoßen. Die Gefühlswelt der Franzosen zählt für ihn wenig, dafür will er nicht Menschen und Material opfern. Immerhin stehen in Paris noch 22 000 deutsche Soldaten, vorwiegend SS-Elitekämpfer, und gut 100 Panzer.

An deren Kapitulation ist nicht zu denken. Am 1. August 1944 ernennt Hitler den General von Choltitz zum Stadtkommandanten – mit dem klaren Befehl, Paris zu halten. Choltitz gilt als einer, der blind gehorcht; am 15. August noch lässt er 15 Jugendliche und Studenten im Bois de Boulogne erschießen. Und er ist bekannt als „Vernichter von Städten“. Vor allem bei der Zerstörung von Sewastopol hat er sich in den Augen des Diktators „bewährt“. Paris soll folgen.

Auf Befehl Hitlers lässt er die Stadt verminen. 200 Fabriken werden zur Sprengung vorbereitet, dazu mehr als 40 Brücken über die Seine; deren Trümmer sollen den Fluss über die Ufer treten lassen, die Bewohner ertränken. Zur Zerstörung vorbereitet werden auch der Invalidendom mit drei Tonnen Sprengstoff, Notre-Dame mit zwei Tonnen, Louvre, Arc de Triomphe, Eiffelturm, viele mehr.

Dem will die Widerstandsbewegung zuvorkommen. Am 19. August wird die Polizeipräfektur von aufständischen Gendarmen besetzt. Darunter – dies gehört zur Wahrheit – auch solche, die vier Jahre lang mit den Deutschen kollaborierten, sogar 1942 bei der Deportation von 4000 jüdischen Kindern nach Auschwitz. Kommunistische Widerständler wiederum besetzen die Rathäuser der 20 Vororte, auch die Comédie Française, die zum Lazarett wird. Einer der Helfer dort: Jean-Paul Sartre.

Mehr erfahren über die Befreiung von Paris

Historial de Gaulle: im Seitenflügel des Invalidendoms, initiiert 2004 von Staatspräsident Chirac, eingeweiht 2008 von Nachfolger Sarkozy. Museumspädagogisch professionelle Darstellung der Person de Gaulles und seiner historischen Bedeutung.

Museum der Befreiung von Paris: Am 75. Jahrestag, dem 25. August 2019, eröffnet von Bürgermeisterin Anne Hidalgo, in der Avenue du Colonel Henri Rol-Tanguy Nr. 4. Hier wird vor allem an jene erinnert, die im de-Gaulle-Museum zu kurz kommen: General Leclerc und Resistance-Kämpfer Jean Moulin. Auch sonst ist die Darstellung ausgewogener, so behandelt sie auch die Kollaboration.

Und Choltitz? Der General war nur zwei Jahre in britischer Gefangenschaft und lebte bis zu seinem Tode 1966 in Baden-Baden; auf dem dortigen Hauptfriedhof ist er begraben. Zur Beisetzung kam auch der französische Stadtkommandant. Choltitz war sogar Ritter der Ehrenlegion. Vielen gilt er bis heute als „Retter von Paris“. Für seine Kriegsverbrechen in Paris und im Osten wurde er nie zur Verantwortung gezogen.

Literatur: Legendäres Standardwerk: „Brennt Paris?“ von Larry Collins und Dominique Lapierre von 1964, 350 Seiten. Superspannend!

Kinofilm: Auf Basis dieses Buches gleichnamiger französisch-amerikanischer Streifen von 1966 mit Jean-Paul Belmondo, Alain Delon, Michel Piccoli sowie Gert Fröbe als Choltitz.

Dokudrama: „Diplomatie“ von Volker Schlöndorff von 2014. Kammerspielartig zeigt der – im Wortlaut jedoch fiktive – Dialog, wie Nordling Choltitz davon abgebracht haben könnte, Paris zu zerstören. -tin

Doch die Aufständischen geraten unter Druck, ihnen fehlt Munition. Sie brauchen Hilfe. Am 20. August kehrt General de Gaulle, der Chef der französischen Exilregierung, aus Algier nach Frankreich zurück. Er kann Eisenhower überreden, Paris zu retten. Am Abend des 23. August trifft er mit einer Panzerdivision in Schloss Rambouillet bei Paris ein. Am Morgen des 24. macht sich sein Kampfgefährte General Leclerc mit diesen Truppen auf den Weg nach Paris.

Dort hat Choltitz eine neue Order aus dem Oberkommando der Wehrmacht. „Der Führer wiederholt seinen Befehl, dass Paris verteidigt werden muss“, heißt es unter dem Datum 23. August, 11 Uhr: „Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen.“

Doch Choltitz hintertreibt diesen Befehl stetig. Der schwedische Konsul Raoul Nordling beschwörte ihn, „nicht als Zerstörer der schönsten Stadt der Welt in die Geschichte einzugehen“; die Alliierten übermittelten ihm, ihn in diesem Falle persönlich zur Rechenschaft zu ziehen.

Als Hitler in seinem Hauptquartier in Rastenburg die Meldung erhält, dass sich die Alliierten dem Stadtzentrum nähern, da tobt er, raunzt seinen Generalstabschef Jodl an, warum sein Befehl zur Zerstörung der Stadt nicht ausgeführt werde: „Brennt Paris?“ brüllt er los. Diese Frage geht in die Geschichte ein.

Vor Ort dauern die Kämpfe an, mit Freude und Schrecken dicht beieinander. Während die Alliierten an der einen Straßenecke von Anwohnern begeistert gefeiert werden, stehen sie an der nächsten im Kugelhagel der Deutschen; die haben sich an 36 Standorten verschanzt. Das alliierte Vorrücken jedoch können sie bestenfalls verzögern.

Am 25. August kehrt de Gaulle nach Paris zurück

Auf Anordnung der Widerstandsbewegung erklingen nun alle Glocken der Stadt, nach vier Jahren der Stille. Choltitz ist gerade beim Abendessen mit seinen Offizieren in seinem Amtssitz, dem Hotel Meurice. Er ruft das Oberkommando West an, hat General Speidel am Apparat. „Guten Abend, ich habe eine Überraschung für Sie“, sagt er süffisant und hält den Hörer ans offene Fenster.

Der 25. August ist der Tag des Heiligen Ludwig, des Schutzpatrons von Frankreich. Um 8 Uhr erreichen die Alliierten das Pariser Stadtzentrum und werden begeistert empfangen. Die Bewohner holen Champagner hervor und die vier Jahre verborgene Trikolore. Kinder hängen wie Trauben auf Panzern, die ein kniehohes Blumenmeer durchfahren.

Doch noch wird geschossen. Optisch sichtbar wird diese chaotische Lage in der Rue de Rivoli. Vom Palais Royal bis zu den Tuilerien weht aus jedem Fenster die Trikolore, zwischen Tuilerien und Place de la Concorde jedoch das Hakenkreuz; in diesem Abschnitt liegt das Hotel Meurice. Um 14.30 Uhr wird es von den Franzosen besetzt, Choltitz verhaftet und abgeführt. In der Polizeipräfektur unterzeichnet er um 15.45 Uhr vor General Leclerc und dem Chef der kommunistischen Widerstandsbewegung, dem legendären Colonel Rol, die Kapitulation.

Gleichwohl gehen die Kämpfe zunächst weiter. Viele deutsche Soldaten wissen nichts von der Kapitulation ihres Befehlshabers oder glauben nicht daran oder ignorieren sie gar.

„Sie sind da!“ – Schlagzeile der „Liberation“ vom 25. August 1944. © Konstantin Groß

Ungeachtet dieser Gefahr, will de Gaulle nach Paris zurückkehren. Um 16.30 Uhr fährt er auf der Avenue d’Orleans in die Hauptstadt ein und macht als erstes Station im Kriegsministerium, aus dem er 1940 weichen musste. Sein stiller Triumph.

Danach begibt er sich zum Rathaus, nun Sitz des Komitees der Widerstandsbewegung, und hält seine erste Rede: „Paris hat sich selbst befreit. Befreit durch sein Volk mit Hilfe der französischen Armee.“ Er dankt – ausgerechnet – der noch kürzlich mit den Deutschen kollaborierenden Gendarmerie, erwähnt aber mit keinem Wort den internen (vor allem kommunistischen) Widerstand oder die Alliierten. Eine Geschichtsklitterung nimmt ihren Lauf.

Mehr zum Thema

Zeitreise

Sacre-Coeur, die Seele von Paris - eine Entwicklung über 150 Jahre

Veröffentlicht
Von
Konstantin Groß
Mehr erfahren
Zeitreise

Der Pariser Eiffelturm - Die eiserne Madame

Veröffentlicht
Von
Konstantin Groß
Mehr erfahren

Am nächsten Tag: de Gaulles „Krönung“. Am Arc de Triomphe legt er beim Grabmal des Unbekannten Soldaten einen Kranz nieder und beginnt seinen zwei Kilometer langen Gang über die Champs-Elysées, bejubelt von etwa zwei Millionen Menschen. Ein Triumphzug, wie ihn nur wenige Staatsmänner erleben dürfen. Und er inszeniert ihn: „Meine Herren, bitte einen Schritt hinter mir!“, befiehlt er seiner Umgebung.

Am Ende, vor Notre-Dame, fallen Schüsse – von versprengten Deutschen oder von Kommunisten, wie de Gaulle glaubt, bleibt unklar. Die Passanten werfen sich schreiend zu Boden. Nicht jedoch de Gaulle: Ungerührt setzt er, aufrecht wie stets, seinen Weg in die Kathedrale fort.

Dieser Tag – er trägt bei zum „Mythos de Gaulle“. 1958 wird er den General für elf Jahre an die Spitze des Staates führen und auch nach seinem Tode 1970 anhalten. Bis heute.

Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke