Mannheim. Man kennt das Phänomen: Jemand stellt ein ausrangiertes Möbelstück auf die Straße und bald schon gesellen sich weitere Dinge dazu. Wilde Sperrmüllhaufen aus kaputten Wäscheständern, alten Elektrogeräten, schiefen Stehlampen und fleckigen Matratzen sind ein Ärgernis in vielen Städten. Auch Sonja Maria Kaas verhehlt nicht den bisweilen in ihr aufkeimenden Ekel angesichts dieser sich ständig verändernden Ansammlungen. Und doch ist die Künstlerin und Gartenplanerin fasziniert von den skulpturalen Ensembles und hat ihnen das Projekt „reality bites“ gewidmet. Der Port25 – Raum für Gegenwartskunst in der Hafenstraße zeigt die immersive Installation mit Fotografien und Fundstücken nach der Eröffnung heute Abend, 19 Uhr, noch bis zum 20. Juli im Rahmen des Festivals OFF//FOTO.
Die verborgene Ästhetik des Sperrmülls entdecken
Drei Wochen lang ist Kaas im vergangenen Herbst durch den Jungbusch gestreift, wo sie seit 2017 wohnt, und hat insgesamt neun verschiedene Sperrmüllablagerungen immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven fotografiert. Indem sie die Haufen als Ganzes oder einzelne Teile daraus freigestellt und vor monochrome Hintergründe in Signalfarben geschoben hat, entzieht sie ihnen jede örtliche Zuschreibung - und jede Anklage. Nur wer ganz genau hinsieht, entdeckt in zufällig vorhandenen alten Spiegeln Häuserfassaden oder Bäume, die einer bestimmten Straße zugeordnet werden könnten. Stattdessen lenkt die Fotografin den Blick auf die besondere Ästhetik der Anordnungen ohne jede Ordnung oder Logik und auf die Objekte selbst. „Mich interessiert die Persönlichkeit, die Identität der Gegenstände“, sagt Sonja Maria Kaas und lädt ein, Fragen zu stellen: nach ihrer Herkunft, ihren Besitzern und nach den Gründen, weshalb sie auf der Straße gelandet sind.
Das kleine rote Ferrari-Cabrio zum Beispiel: ein Kinderauto in Bobbycar-Größe. Wer damit wohl durch die Gegend geflitzt ist? Ob das Kind mittlerweile zu groß dafür ist? Und wer es nun besitzt? „Es stand nur einen Tag und war dann weg“, erzählt Kaas. Das sei eine ihrer wesentlichen Erkenntnisse gewesen: „Die Dinge wandern, vor allem die mit Rollen.“ Wer hat wohl zwei Sofas so angeordnet, dass die darauf Sitzenden sich nicht unterhalten können? Und welcher Scherzkeks hat neben eine kaputte Kaffeemaschine ein halbes Glas Instant-Kaffee gestellt? Aus Details wie diesen könne man sich ganze Geschichten ausdenken und erzählen, findet sie.
Ein Wohnzimmer aus geretteten Fundstücken erschaffen
Einige Fundstücke hat sie gerettet und zu einer Installation gruppiert: ein kleines Sideboard, eine Lampe und eine hübsche, unbeschädigte Vase erzeugen in der Mitte des Ausstellungsraums eine heimelige Wohnzimmeratmosphäre. Besucher der Ausstellung sind ausdrücklich aufgefordert, das Sitzmöbel zu benutzen: Der bequeme Kugelsessel aus den 70er Jahren ist prima erhalten und lässt sich um 360 Grad drehen - ideal, um einen ersten Eindruck der Bilder zu erhalten.
Um die Details zu erfassen, lohnt jedoch der Blick aus kurzer Distanz: auf die Veränderungsprozesse , die die Sperrmüllhaufen durchmachen, auf die unterschiedlichen Blickwinkel, die die Fotografin uns gewährt, und auf die einzelnen Dinge, die sie hervorhebt, um uns ihre Seele zu zeigen.
Am 15. Mai findet im Port25 ein Künstlerinnengespräch statt.
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