Drei Leinwände im Format überdimensionaler Smartphone-Displays hängen von der Decke des Mannheimer Eintanzhauses herab. Sie strukturieren die leere Bühne wie Raumteiler, hinter jeder könnte sich eine neue Welt eröffnen. Ein Video wird auf die Leinwände projiziert. Ein paar Jugendliche lachen, winken in die Kamera, formen ein V mit Zeige- und Mittelfinger. Als ein Pulk von fünf Tänzern die Bühne betritt, wird klar: Die von einem schnellen Beat untermalten Bilder sind live. Drei Mädchen und zwei Jungen wechseln sich ab beim Filmen der tanzenden Gruppe, die vom Smartphone scheinbar magisch angezogen werden – eine fröhliche Selbstinszenierung von wenigen Minuten mit dem Potenzial zum Viral-Gehen.
Smartphones und Social-Media-Kanäle sind im Alltag Jugendlicher allgegenwärtig. Aber wie prägen Instagram und Tiktok ihr Leben? Was macht der Dauerkonsum von Memes, Vlogs und Online-Tutorials mit ihnen und wie bringen sie die virtuelle Welt mit der analogen in Einklang? All diese Fragen haben sich die Mitglieder der Junior Dance Company des Eintanzhauses für ihr Projekt „Going Live“ über Monate selbst und gegenseitig gestellt. Ihre Beobachtungen und Erfahrungen haben sie zu einer vielschichtigen, differenzierten und tänzerisch hochklassigen Performance montiert, deren Uraufführung Bravo-Rufe und begeisterten Applaus erhielt.
Junge Talente entwickeln ihre eigene Tanzsprache
Das Tänzer- und Tanzpädagogenpaar Julie Pécart und Jonas Frey, das die Anfang 2019 gegründete Nachwuchscompany von Beginn an leitet, lässt den Jugendlichen viele Freiräume. Statt vorgegebene Choreografien einzustudieren, sollen die Jungs und Mädchen zwischen zwölf und 19 Jahren ihre eigene Tanzsprache entwickeln, in der sie ihre individuellen Geschichten erzählen. Das funktioniert in „Going Live“ einmal mehr prächtig. Die Vereinzelung, wenn alle auf ihre Smartphones starren, wird ebenso dargestellt wie der Wunsch nach Wahrnehmung und Akzeptanz, der Einsatz von Filtern zur Selbstoptimierung sowie das Spannungsfeld zwischen Individualität und Konformität. In eingespielten Interview-Schnipseln setzen sie sich mit ihrer eigenen Haltung zu Social Media auseinander und stellen den Vorteilen wie Inspiration, der Verbindung zu Freunden in der ganzen Welt und der ständigen Verfügbarkeit von Information die Nachteile gegenüber – Zeitverschwendung, dumme Reels und die Beobachtung: „Mein Gehirn verrottet.“ Ans Publikum stellen sie Fragen wie „Hast du deinen Algorithmus trainiert?“ oder „An wie viele Videos erinnerst du dich?“, über die Leinwände flimmern schnell geschnittene Sequenzen aus Nachrichtensendungen, Politiker-Kanälen, Katzenvideos und ein selbstgedrehter, ironischer Werbeblock.
In ihr Bewegungsvokabular nehmen die Jugendlichen Tik-Tok-Tänzchen ebenso auf wie Elemente des Urban Dance. Lucia Diaz schwingt immer wieder boxend die Fäuste, Joshua Störzinger lässt Wellen durch seinen Körper fließen. Expressive Gesten und Soli wechseln mit synchron in der Gruppe getanzten Passagen. Sebastian Horn hat dafür wunderbar passende Melodien komponiert, die die Choreografie zünden lassen wie die Konfettikanone, deren silberne Schnipsel noch glitzernd auf der Bühne liegen, als die fünf Nachwuchstänzer schon mit den Premierengästen feiern. Ganz analog.
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