Mannheim. Irgendjemand muss ja noch die alten Werte hochhalten. Die europäischen. Immateriellen. Kulturellen. Denn woanders werden nur noch „Deals“ verhandelt. Egoismen ausgelebt. In einem Sinfonieorchester aber müsse man „bereit sein, ‚europäische‘ Erfahrungen zu machen“, also als Gemeinschaft aufzutreten. Das ist eine Aussage des Dirigenten Jan-Paul Reinke. In der Mannheimer OPAL kann man nun hören, ob es funktioniert hat: in einem Konzert der European Youth Orchestra Academy, die Reinke leitet und auch während ihrer intensiven Arbeitsphase immer wieder angetrieben hat.
Die Nachwuchs-Instrumentalistinnen und -Instrumentalisten aus fast ganz Europa seien diesmal ganz besonders jung, erklärt Michel Maugé als Initiator der „Academy“. Das Durchschnittsalter liege bei knapp 16 Jahren, aber das Niveau sei dessen ungeachtet hoch wie nie. Selbst das Europa-Parlament zählt zu den Schirmherren (und –damen) der Veranstaltung – und selbst ein Brite spiele im Orchester mit, sagt Mannheims Oberbürgermeister Christian Specht. Obwohl es ja vor Jahren diesen kleinen Unfall namens „Brexit“ gab.
Europäische Einflüsse und Cannabichs musikalisches Erbe
Specht muss natürlich auch an jene große Zeit erinnern, als die Mannheimer Orchesterschule schon einmal eine europaweite Ausstrahlung besaß. Vor mehr als zweieinhalb Jahrhunderten, als „Musenfürst“ Carl Theodor regierte. Einer seiner größten Musiker war Christian Cannabich, damals ein echter Trendsetter. Was sich auch im Konzertprogramm des Abends spiegelt, das mit Auszügen aus Cannabichs Ballettmusik „Les Fetes du Sérail“ beginnt. Es ist eine der „Turquerien“ aus dem 18. Jahrhundert, lustig scheppernd, säbelrasselnd. Immer wieder die Musik der Janitscharen wachrufend. Und Cannabich schrieb derlei schon um 1770. Also noch vor Mozarts „Alla turca“.
Nachwuchs für die europäische Idee
- Die European Youth Orchestra Academy verdankt sich dem Impulsgeber Michel Maugé, der lange Jahre Chef des Mannheimer Kongresszentrums im Rosengarten war.
- 2019 wurde die „Academy“ gegründet.
- Teilnehmer sind Teenager ab 14 und bis höchstens 19 Jahre n; alle sind schon „klassisch“ ausgebildet und die meisten bereits in Orchestern aufgetreten.
- An Bewerberinnen und Bewerbern gab es diesmal 120 (die aus über 25 Ländern kamen), ausgewählt wurden letztendlich 56. Dabei war die spanische Fraktion die stärkste.
- Ort der intensiven Arbeitsphase war die Mannheimer Musikschule . Im Börsensaal gab es auch eine öffentliche Generalprobe.
- Im RNF kann man am 1. Mai um 21 Uhr die Aufzeichnung des Abschlussabends sehen, später auch im Streaming und auf YouTube.
Jan-Paul Reinke, heftig in den Noten blätternd, und sein junges Sinfonieorchester eilen durch das halbe Dutzend ausgewählter Sätze. Schnelligkeit ist ihr Metier, selbst die Europa-Hymne, die der allererste Punkt ihres Programms ist, nehmen sie sehr zügig. Aber es ist dennoch ein erhebender Moment: Das Publikum in der OPAL steht dafür eigens auf.
Ludwig van Beethoven bestimmt das Programm
Besagte Hymne stammt bekanntlich aus der neunten Sinfonie von Beethoven, einem Gesinnungs-Europäer erster Güte. Er bestimmt das Mannheimer Programm. Zunächst mit seinem prototypischen c-Moll-Klavierkonzert, das in gewisser Weise Kollektiv- und Freiheitsrechte musikalisch diskutiert: „Heroisch“ selbstbewusster Solopianist trifft auf Orchestermasse.
Und an einem solchen selbstbewussten Pianisten fehlt es nicht: Fabian Müller aus der Beethoven-Geburtsstadt Bonn war Preisträger beim renommierten Bozener Busoni-Wettbewerb, vor einem Jahr war er in Schwetzingen „Artist in Residence“ der SWR-Festspiele. Er macht den Klavierpart glasklar durchhörbar, sogar der kleinste Triller füllt den ganzen Saal. Er nutzt das große Spielfeld, das ihm das Orchester lässt. Und zeigt im Schlusssatz des c-Moll-Konzerts auch Kante. Ehe Müller in der Zugabe ganz sanft wird: mit dem Wiegenlied von Brahms, gekrönt von hauchzart hingetupften Oktavierungen.
Ein beeindruckendes Zusammenspiel trotz kleiner Makel
Doch nach der Pause kommt die Sinfonie schlechthin: Beethovens Fünfte lässt das Schicksal an die Tür donnern und etabliert eine Durch-Kampf-zum-Sieg-Ästhetik. Jan-Paul Reinke und die jungen Europäer im Orchester arbeiten sich ohne Furcht voran, sogar die Hörner zeigen dabei eine breite Brust. Auch wenn sie nicht ganz makellos agieren. Aber Hörner sind ja auch in Profi-Sinfonieorchestern manchmal Sorgenkinder, fast so etwas wie die Sollbruchstelle im Verbund der Instrumente. Diese kleine Einschränkung könnte man also machen, wenn man streng sein wollte.
Reinke formt beeindruckende orchestrale Einheit und Klangkultur
Doch ansonsten muss man loben, wenn nicht staunen: darüber, wie Reinke in der kurzen Arbeitsphase ein Orchester aufgebaut hat, das tatsächlich eine Einheit ist. Eine Gemeinschaft. Insbesondere der Streicherapparat wirkt schon erstaunlich homogen, die Celli haben in den grummelnden Passagen, die der dritte Satz der Sinfonie für sie bereithält, sogar Grip. Und Biss. Die Holzbläser zeigen schon echte Klangkultur. Das Schlagwerk gibt sich wuchtig. Im Finale schließlich schmettern siegverkündende Trompeten.
Beethoven lebt also noch. Die Werte, die wir „europäisch“ nennen, vielleicht ebenfalls. Das Mannheimer Konzert endet mit stehendem Applaus und Bravo-Rufen.
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