Heidelberg. Es sei keine Performance, die er zeige, erklärt Edan Gorlicki seinem Publikum im Heidelberger Karlstorbahnhof. Es gehe ihm vielmehr um „practice“, wie er auf Englisch erklärt. Damit eröffnet der Tänzer gleich zu Beginn seine choreografische Methode, die mit dem Begriff der „Übung“ auf das Trainieren derselben zielt. Da passt der Titel „This is complex“ gut, denn er schützt vor Festschreibungen und verweist auf ein mehrschichtiges Vorhaben. Dafür hat Gorlicki die Bühne im Vordergrund mit einer kleinen Leinwand bestückt, im Hintergrund mit einer fragilen Skulptur aus unzähligen ineinander verhakten weißen Drahtkleiderbügeln. Wer die Arbeitsweise des Choreografen kennt, weiß, dass er Stücke nicht für den passiven Genuss und zum Zurücklehnen schafft. Nicht umsonst nennt Gorlicki seinen in Heidelberg ansässigen Verbund aus Künstlerinnen und Künstlern „Inter-Actions – more than a dance company“. Aus der Interaktion und im demokratischen Zusammenspiel entstehen die Ideen zu seinen Stücken. Dafür tauscht er sich immer wieder aus mit seinem Team und mit allen an Bewegung interessierten Menschen aus der Rhein-Neckar-Region. In regelmäßigen Treffen wird getanzt und mithilfe von Fragestellungen zum Thema geübt.
Gorlicki übersetzt jeden Begriff in eine tänzerische Form
Gorlicki ruft in „This is complex“ eine KI mit Namen „Jasmin“ als weitere Mitspielerin auf. Ihre humorvollen und zugleich abgründigen Einwürfe werden auf der Leinwand als Text verzeichnet: „Klarheit ist das Letzte, woran Sie festhalten und das sie loslassen müssen.“ Hier ist also Offenheit gefragt. Während der Choreograf Zettel austeilt, ist jeder, der will, aufgefordert, den Begriff auf seinem Papier in das Mikro vor der Bühne zu sprechen: Realist, Ehemann, Opfer von Terrorakten, Fleischesser, Emigrant und viele weitere Merkmale, die man einer Person zuordnen kann, werden im Raum hörbar. Dazu übersetzt Gorlicki jeden Begriff in eine tänzerische Form. Aneinandergefügt ergeben sie einen grandios expressiven Tanz voller Präzision jeder einzelnen Gestalt. Hier wird der Choreograf zum eindrucksvollen Tänzer und auch die KI weiß das zu kommentieren: „Erkenne, dass alles mit allem verbunden ist“, zitiert sie den Multidisziplinären Künstler Leonardo da Vinci.
Derweil finden sich neue Begriffe auf Zetteln unter jedem Sitz, die das Publikum bereitwillig verliest: „Rechter Fuß, schnell, ins Detail, stark, chaotisch …“ Gorlicki reiht auch hier, trotz der überfordernden Begriffsflut, erfindungsreich Bewegungen aneinander, bis er einbricht und sich doch weiter transformiert. Jetzt ist er ein aggressives kläffendes Wesen, bereit zum Angriff, und dann ein heulendes, weinendes tief verletztes Menschlein. Und auch die KI ist aus der Spur gelaufen, lässt ein Stimmengewirr hören, das den Text auf sein pures Zeichen zurückwirft.
Erschrecken, erstaunen und stark berühren kann einen die perspektivreiche „Übung“ von Gorlicki, die er mit einem letzten großartigen audio-visuellen Eindruck abschließt: Während der Tänzer die fragile Skulptur aus Kleiderbügeln betritt und ihre Verbindungen beim Auseinanderfallen als brüchige deutlich werden lässt, singt Asaf Avidan vom Band „This is it“. Wer auch mal üben will, kann das am 30. und 31. Juli um 20 Uhr im Heidelberger Karlstorbahnhof tun.
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