Sterben und Tod: keine leichten Themen fürs Kindertheater. Bei der Uraufführung von „Unter Drachen“, des neuen Stücks am Jungen Nationaltheater, sind es am Ende die Erwachsenen, die sich eine Träne verdrücken: Die Kinder im Publikum hingegen gehen erstaunlich gelassen damit um, dass der heiß geliebte Großvater aus der Geschichte seinen letzten Atemzug getan hat.
Was vor allem an der bemerkenswerten Inszenierung liegt: Das Team um Patricija Katica Bronic und Hanna Valentina Röhrich, beide bis vor kurzem noch Ensemblemitglieder in Mannheim, hat eine archaische Erzählsituation geschaffen, die in eine unmittelbare Erlebniswelt führt. Einzige Darstellerin: Die Schweizerin Nadja Rui, die die Besucher sachte in den dunklen Theatersaal und in ein rundes mit Gazestoff bespanntes Zelt führt, welches an eine mongolische Jurte erinnert. Nadja Rui ist Ira, die die nächsten 60 Minuten mit großer Stimme, starker Gestik und präsenter Körperlichkeit bestreitet, einen Spannungsbogen herstellt. Und mit ihren schwarz-weißen Cowboystiefeln deutlich macht, dass sie eine robuste Kämpferin ist.
„Unter Drachen“ am JNTM
- Das Stück: „Unter Drachen“ ist ein Theaterstück für alle ab acht Jahren. Mit dem Stück sollen die Themen Tod und Trauer ein Stückchen mehr in den Alltag und unsere Gesellschaft integriert werden. In „Unter Drachen“ werden die Themen künstlerisch behandelt und das Publikum auf eine Reise geschickt, an deren Ende ein offenes Gespräch geführt wird.
- Die Mitwirkenden: Regie führte Patricija Katica Bronic, der Text stammt von Hanna Valentina Röhrich, für Bühne und Kostüme hat Nora Müller, für Musik Tobias Schmitt gesorgt. Es spielt Nadja Rui.
- Aufführungen: am 10. und 11. Januar um 9.30 Uhr (Karten: 0621/1680 150).
„In dieser Nacht wird ein Mensch zum Drachen gemacht“, tönt es aus dem Off. Regentropfen prasseln, dann ist es mucksmäuschenstill. Ira reicht zwei große Gläser herum, in denen auf Blättern Schneckenhäuser hocken. Jeder darf hereinschauen, tasten, anfassen. Ira erzählt von ihrem Großvater, der ihr eindrucksvolle Erfahrungen um die Geheimnisse der Natur verraten hat, der sie gelehrt hat, mutig mit dem Leben umzugehen. Der mit ihr Drachen baut. Und ihr die „Dreipunkt-Technik“ beim Bäume-Besteigen beibringt. „Lern was für die Ewigkeit“, donnert der Opa seine Enkelin an. Dummerweise stürzt er dabei, die beiden spielen das dramatische Sterben wie nur Kinder es so treffend (schau-)spielen können. Und eben Nadja Rui als Ira.
Kinder aus dem Publikum spielen
Zwischendurch wird einfach eine Siesta eingelegt, am Zeltdach ist ein bewegtes Meer sichtbar, es rauscht gewaltig aus Lautsprechern. Die Kinder können einwerfen, was sie erträumen. Ira beruhigt die Gemüter, um zum Thema zu kommen. Denn den „wirklichen“ Tod Großvaters erzählt sie nun ganz beiläufig. Die ganze Familie ist dabei, wie er altersschwach im Bett stirbt. Wohin der Opa jetzt entschwunden ist? Fragen über Fragen, alles ist möglich, Ende offen.
Herausragend: Nadja Rui. Sie ist nicht nur omnipräsent, sie macht die kleine Erzählung auch zur omnipräsenten Realität. Das Zelt wird zum magischen Ort. Sinnlich nachvollziehbar entstehen Wiesen und Felder. Hier steigen Drachen, bleiben in Bäumen hängen. Den Drachen kann Ira an Fäden herbeiziehen. Den erinnerten Großvater spielen abwechselnd Kinder aus dem Publikum, in dem sie eine schwarze Kappe aufziehen. So einfach und eindringlich kann Theater sein. Für Kinder, die sich ohnehin im Alltag ihre eigenen Welten erschaffen, ein gewohntes Spiel.
Musik und visuelle Projektionen unterstützen das ohnehin schon dichte Erlebnis. Das kraftvolle und doch einfühlsame Einbeziehen des Publikums wird mit wenigen Regiekniffen wirkungsvoll ermöglicht. Einzig die Sprache erscheint zum Teil ein wenig liebedienerisch, die Beschreibungen „krass“ und „cool“ müssen für zu viele Bedeutungsebenen geradestehen.
Gleichwohl sind die Kinder gleich bei der Sache, das Team um Bronic und Röhrich hat es klug vermocht, die Fantasie der Kinder auf die Themen Tod und Trauer zu lenken. Mit der geleisteten Behutsamkeit kann für sie Furcht und Schrecken bewältigt werden – vielleicht jetzt etwas besser auch für Erwachsene.
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