Tanz

Eindrücklicher Tanzabend des Nationaltheaters

Von Schmerz, Verlust und Tod erzählt der eindrückliche Chopin-Abend des Tanzintendanten Stephan Thoss. Die Produktion des Nationaltheaters setzt sich mit dem Krieg in der Ukraine auseinander

Von 
Nora Abdel Rahman
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Szene aus dem Chopin-Abend der Tanzsparte: Im Vordergrund Albert Galindo. © Christian Kleiner

Vier graue Bänke stehen an der Längsseite der hohen Halle der alten Schildkröt-Fabrik in Mannheim-Neckarau. Ein schwarzer Flügel schließt die Bankreihe ab. An den drei anderen Seiten der Fabrikhalle sind die Stühle für die Zuschauer angeordnet. So sitzt das Publikum nah am Tanzgeschehen, obwohl sich der Blick von allen Sitzplätzen auf die gesamte Länge der Tanzfläche öffnet.

Viel Licht fällt durch die acht riesigen Bogenfenster der einen Längsseite auf den schlichten hellen Tanzboden und die weißen Wände. Und wie gespiegelt den riesigen Industriefenstern gegenüber geben im Tonnendach der Fabrik ebenfalls acht kleine Bogenfenster als Lichtband den Himmel preis. In diese Architektur und Anordnung der Dinge treten nun acht Paare und bevölkern die vier grauen Bänke. Einige von ihnen sitzen, einige hocken oben auf der Rückenlehne, wieder andere stehen hinter der Bank.

Individuelle Geschichten

Dieses erste Bild von unterschiedlichen Menschen, die sich in verschiedenen Körperhaltungen auf die vier Bänke verteilen, ist grandios einprägsam. Obwohl die Kostüme der Tänzer verschiedene Abstufungen von Beige über Grau bis Anthrazit zeigen – also keine bunten Farben ins Auge fallen –, lassen die verschiedenen Haltungen eine jeweils individuelle Geschichte erahnen. Während oben in den kleinen Fenstern die Wolken am blauen Himmel ziehen, eröffnet dieses fantastische Eingangsbild den „Chopin-Abend“. Aus den kyrillischen Buchstaben des Untertitels ergibt sich das Wort „krik“, auf Deutsch mit „Schrei“ zu übersetzen. In der Aussprache des Wortes schwingt für Stephan Thoss aber auch das deutsche Wort für „Krieg“ mit. Schrei und Krieg scheinen nicht nur vom Klang her miteinander verwandt zu sein. Tatsächlich ist wohl kein Krieg ohne den Schrei denkbar. Beide Begriffe bilden den Ausgangspunkt für die neue Arbeit des Chefchoreographen und Tanzintendanten des Nationaltheaters.

Tanz in der Schildkröt-Fabrik

  • Mit seinem „Chopin-Abend“, der einen kyrillischen Untertitel trägt, gedenkt Tanzintendant Stephan Thoss der Kriegsopfer in der Ukraine und der von dort geflüchteten Menschen.
  • Für sein neues Tanzprojekt hat der Choreograf den Pianisten Camillo Radicke und die Sopranistin Maria Polanska engagiert. Zusammen mit dem Ensemble von Thoss gestalten die Künstler ein eindrucksvolles Live-Programm in der historischen Halle der Schildkröt-Fabrik im Mannheimer Stadtteil Neckarau.
  • Das Gebäude der Fabrik, ursprünglich im 19. Jahrhundert erbaut zur Herstellung von Gummi und Celluloid, setzt Tanz, Musik und Gesang in ein spannungsreiches Architekturerlebnis.
  • Bislang keine weiteren Termine.

Bereits im März des Jahres hatte sich Thoss mit dem russischen Überfall auf die Ukraine auseinandergesetzt. Im Nachbarland Polen fanden viele vor dem Krieg fliehende Menschen Schutz. Für Thoss ist daher die Musik des polnischen Komponisten Frédéric Chopin das ideale Medium, um menschliche Emotionen im Bund mit dem Tanz zu transportieren. Thoss lässt die Musik live von international gefragten Chopin-Spezialisten Camillo Radicke spielen. Doch neben der bald feinfühlig melancholisch, bald aufwühlend sprühenden Musik des Pianisten, der dem leichtfüßigen Tanzensemble Drehungen und Wendungen einzuflößen scheint, krönt noch eine weitere Künstlerin das emotional aufreibende Projekt. Mit der Sopranistin Maria Polanska hat der Choreograph eine Sängerin gefunden, die als gebürtige Polin den Liedern Chopins und dem Gesamtkunstwerk eine starke Note verleiht.

Sie singt in ihrer Muttersprache, auf Polnisch, und interpretiert mit ausdrucksstarker Stimme drei Lieder von Chopin: „Eine Melodie“, „Trübe Wellen“ und „Polens Grabgesang“. Damit strukturiert die Sängerin, die sich im schlichten schwarzen Kleid der Gruppe des Tanzensembles einfügt, auch das Geschehen auf der Tanzfläche.

Himmel hat sich verdunkelt

Drei Mal erhebt sich die Stimme von Maria Polanska, die in den Liedern von Schmerz, Verlust und Tod singt. Zu Beginn sitzt sie allein auf der Bank, während sich das Ensemble zu einem Menschenhaufen formiert; im Mittelteil steht sie allein auf der Fläche, während die Tänzer am Boden kauern; und am Ende bildet das Ensemble einen Pulk, aus dem heraus sich eine Tänzerin erhebt und ihren Körper nach hinten fallenlässt.

Sie wird aufgefangen und getragen von der Menge. Davor steht die Sängerin und singt ihr letztes Lied über Himmel und Menschenherzen, über Trauer und bitteren Schmerz. Und in den kleinen Bogenfenstern oben sind nun keine Wolken mehr zu sehen. Der Himmel hat sich verdunkelt.

Freie Autorin

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