Das Land wirkt gespalten: Kulturoptimismus trifft auf Kulturpessimismus, brennende Hilfsbereitschaft auf brennende Flüchtlingsheime. Die geistigen und praktischen, mitunter auch biedermännischen Brandstifter sind zwar Ausnahmen, die die Willkommensregel bestätigen; aber es wachsen Zweifel: Schaffen wir das wirklich? Und wenn nein, mit welchen Folgen?
Klar ist: Deutschland braucht Einwanderung, wie auch andere alternde und schrumpfende Wohlfahrtsstaaten in Europa. Noch gibt es starke europäische Zuwanderungen Richtung Deutschland. Die Migranten sind meist jung und oft gut qualifiziert. Aber wenn die europäische Zuwanderung nach Deutschland in der Zukunft schrumpft? Wenn das demografisch vergreisende Paradies in der Mitte Europas umso mehr auf Zuwanderung aus Drittstaaten fern der EU angewiesen sein wird? Also aus ganz anderen, zum Beispiel auch nordafrikanisch-arabisch-muslimischen Kulturen?
Und plötzlich hat diese Zukunft scheinbar schon begonnen, nämlich im Blick auf die starken Flüchtlingszuwanderungen auch aus nordafrikanischen Krisenregionen.
Flüchtlinge und Asylsuchende sind aber keine Lückenfüller am Arbeitsmarkt. Sie haben Anspruch auf Schutz, solange ihnen nicht nachgewiesen werden kann, dass es dafür asylrechtlich keine Grundlage gibt.
Wenn also über die Nützlichkeit von Flüchtlingen für den Arbeitsmarkt geredet werden kann, dann nur im Blick auf die Förderung ihrer Integration durch Arbeit, was ja auch im aufgeklärten Eigeninteresse des demografisch geplagten Aufnahmelandes liegt.
Der Migrationsdruck wird anhalten; will sagen: Wir müssen uns darauf einrichten, dass aus vielen Flüchtlingen Mitbürger werden, mit welchem rechtlichen Status auch immer. Insgesamt aber gilt: Wir müssen teilen lernen. Und das beginnt im eigenen Land. Notabene: Spenden heißt noch nicht teilen. Und Willkommensgrüße sind noch keine Willkommenskultur.
Reform und Kurswechsel
"Wir schaffen das", hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mutig gesagt, dabei aber ihre Rechnung ohne die abweisenden anderen Wirte in Europa gemacht und mit ihren drei Worten im Wanderungsgeschehen überdies versehentlich eine Art Schabowski-Effekt ausgelöst. 'Schaffen' werden 'wir' das nur, wenn es auch zu einer grundlegenden Reform des inhumanen und dysfunktionalen Asylrechts in Europa kommt.
Und diese Reform muss noch von anderen Kurswechseln begleitet werden. Das gilt zum Beispiel für die wachstumsblockierende und krisentreibende EU-Handels- und Agrarpolitik gegenüber den Herkunftsländern der irregulären und oft unfreiwilligen Zuwanderungen in Europa. Und es gilt im Blick auf das immer engmaschiger gewordene Netz von neokolonialen Strukturen, das zum Beispiel über Afrika gebreitet wurde und vielfach aus doppelter Ausbeutung besteht.
Die Flucht aus afrikanischen und arabischen Krisenzonen ist aber nur ein Beispiel für das weltweite Fluchtgeschehen mit seinen zahllosen Opfern. Die weltweiten Fluchtbewegungen haben eine nie gekannte Dimension erreicht, die selbst diejenige der Fluchtbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg übertrifft. Und das ist wohl erst der Anfang, denn die klimagetriebenen Fluchtwellen kündigen sich schon an.
In dieser Welt, in der heute fast die Hälfte des globalen Reichtums in den Händen von weniger als einem Prozent der Weltbevölkerung liegt, gibt es nicht eine weltweite "Flüchtlingskrise", sondern eine Weltkrise, die Fluchtbewegungen erzeugt.
Wenn man diese Weltkrise bekämpfen will, dann muss man sich nicht um die Begrenzung ihrer Folgen in Gestalt von Fluchtbewegungen, sondern um ihre Ursachen kümmern.
Und dazu muss man weltökonomische, weltökologische und weltgesellschaftliche Systemfragen stellen, wie sie auch der aus der nichtmarxistischen südamerikanischen Befreiungstheologie stammende große Papst Franziskus in seiner Enzyklika "Laudato Si" in ungewohnter Schärfe angesprochen hat.
Begrenzung der Ursachen nötig
Wir brauchen dringend eine UN-Weltkonferenz zu Migration, Flucht und Asyl, analog zu den großen Weltkonferenzen seit den 1990er Jahren, am besten verbunden mit einer UN-Dekade zum Schutz der Flüchtlinge. Eine UN-Weltkonferenz zu Flüchtlingsfragen ist aber nur dann sinnvoll, wenn es dabei nicht nur um die kurative Behandlung oder gar Bekämpfung der Folgen, sondern auch um die Begrenzung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen geht. Das Gegenteil ist derzeit in Europa der Fall: Verstärkt angelaufen ist die immer schärfere Abriegelung der "Festung Europa" an und auch weit vor ihren Grenzen.
Der Krieg gegen Flüchtlinge vor den Grenzen und Küsten der "Festung Europa" warf einen Schatten über die Feiern zu 25 Jahre deutsche Einheit, die man im Blick auf mein Thema auch unter das Motto stellen könnte "Das Fest und der Tod" - denn in den gleichen 25 Jahren sind auf dem Weg nach Europa und Deutschland mindestens 30 000 Flüchtlinge allein im Mittelmeer umgekommen.
Vor der deutschen Vereinigung sind Flüchtlinge an der deutsch-deutschen Grenze gestorben, heute sterben Flüchtlinge in Massen vor den Grenzen der "Festung Europa".
Zum Autor Klaus J. Bade
Der Migrationsforscher, Publizist und Politikberater Prof. em. Dr. Klaus J. Bade lehrte bis 2007 Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und lebt seither in Berlin.
Er war u.a. Begründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), des bundesweiten interdisziplinären Rates für Migration (RfM), der Gesellschaft für Historische Migrationsforschung (GHM), stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates der Bundesregierung für Migration und Integration (Zuwanderungsrat) 2004/05 und von Ende 2008 bis Mitte 2012 Gründungsvorsitzender des von ihm konzipierten Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in Berlin.
Bade war Fellow/Gastprofessor an den Universitäten Harvard und Oxford, an der Niederländischen Akademie der Wissenschaften sowie am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
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