Winter in Schwetzingen

Winter in Schwetzingen: Ach wie flüchtig!

Mit Klassik-Star Dorothee Oberlinger startet das Theater Heidelberg in den "Winter in Schwetzingen". Die Ausgrabung der Reinhard-Keiser-Oper "Nebukadnezar" hat gutes Niveau, wirkt allerdings zu oberflächlich

Von 
Stefan M. Dettlinger
Lesedauer: 
Sieht aus wie eine Familienaufstellung, ist in Wahrheit aber auch das Ende einer Herrschaft: Florian Götz (Mitte) als König Nebucadnezar mit Ensemble. © Susanne Reichardt

Schwetzingen. Am Ende, wenn alle Leidenschaft verpufft und das melodramatische Pulver (längst) verschossen ist, kommt Bach. Johann Sebastian. Aus dem Off erklingt seine Musik. Von irgendwo hinter der Bühne. Einfach. Klar. Auf den Punkt. Ein einfacher Choral. Und irgendwie wird durch ihn alles relativiert: das barocke, virtuose und prächtige Feuerwerk von Reinhard Keisers fast nicht enden wollender Arienperlenkette.

Das egoistische Streben des Menschen nach Geltung, Gewicht, Liebe. Schließlich: der Abend selbst. „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!“ tönt da sanft aus dem Hintergrund. Während die Bühne im Schwetzinger Schlosstheater dämmernd schweigt, gleiten die vier Stimmen leise von Moll zu Dur. Es ist - man muss es leider so sagen - der einzige große Überraschungseffekt, mit dem uns das Team um Regisseur Felix Schrödinger bei dieser Premiere staunen lässt.

Hat Schrödinger das „ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ auch auf seine Deutung von Keisers Oper „Nebucadnezar“ bezogen? Immerhin hätte er damit einen sympathischen selbstironischen Effekt gesetzt an einem Abend, der sicher nicht schlecht ist, aber irgendwie in einer eigenartigen und bisweilen sich fast bis zur Übersättigung entwickelnden Oberflächlichkeit gefangen bleibt. Leider kann auch Alte-Musik-Star Dorothee Oberlinger am Pult des Instrumentalensembles im kleinen Graben des Theaters nichts daran ändern. Ohnehin scheint es über weite Strecken, die begnadete Blockflötistin dirigiere mit der Musik, gehe in ihr auf, statt aktiv entscheidende Akzente zu setzen und Einsätze zu geben. Das Ergebnis bleibt unter dem Strich aber gut, in schnellen Arien schwungvoll, beherzt und tänzerisch, in zurückgenommenen Passagen mitunter beseelt. Die Rezitative überlässt Oberlinger ganz dem Continuo. Hier versteht man sich ohnehin blind.

Wer mit wem wie oft?

Aber mit diesem barocken Werk haben wir wieder so eine vertrackte Liebes-, Todes- und Familiengeschichte, derer Logik man im Grunde kaum Herr werden kann, es sei denn, man fertigt ein Schaubild an mit Liebes-, Hass- und Konkurrentinnenpfeilen, mit Todes-, Familien- und Folterbeziehungen. Doch das Wer-mit-wem-und-wenn-ja-wie-oft spielt an diesem Abend in Schwetzingen ohnehin nicht die größte Rolle, denn im Mittelpunkt der Story um den mehr und mehr verrückt werdenden babylonischen König Nebucadnezar steht sie: die Verrücktheit an sich.

Sie verkörpert Florian Götz als Nebucadnezar in all ihrer Selbst-Herrlichkeit, indem er nur sich selbst sieht und nicht realisiert, welch übles Treiben um ihn von Tochter, Sohn und Frau gespielt werden. Dass er, längst sabbernder Dahinsiechender, erst im Angesicht Gottes und des Kreuzes wieder lebendig wird, ist eine in postchristlichen Zeiten steile These. Götz singt vor allem gegen Ende gut. Die feurige F-Dur-Arie „Nach des Himmels rauen Blitzen“ ist denn auch der beste Beweis seines kernigen und wendigen Koloratur-Baritons.

Jüdische Massendeportation

Alles in allem verbringt man bei dieser Familienaufstellung im Einheitsbühnenbild am Fuße des Herrscherbettes inklusive Pause 170 bunte (Ausstattung: Pascal Seibicke), oberflächliche und eher harmlose Minuten. Das Werk trägt die Länge nicht, in psychologische Tiefen dringt es nicht vor - und Schrödinger verhindert nicht, dass hier eine Bagatellisierung und Privatisierung einer historischen Figur betrieben wird, die doch politische Wirkkraft besaß und gerade aus heutiger Sicht brisant erscheint; immerhin gilt die biblische Erwähnung einer (jüdischen) Massendeportation sowie des Raubes der Jerusalemer Tempelschätze durch archäologische Schriften als ziemlich sicher. Eine inszenatorische Erwähnung hätte dem Abend eine Dimension mehr verliehen. So aber verharrt er im bunten Klamauk und Jetzt.

Keine(r) sticht vollkommen heraus

Und befindet sich auch sängerisch nicht immer ganz auf der Spitze, wobei alle im zweiten Teil des Abends deutlich zulegen. Die mit Koloraturen gespickte D-Dur-Arie „Frohlocket und scherzet“ setzt Sopranist Darius Orellana (Darius) intonationssicher und locker-perlend um - ein sängerischer Höhepunkt. Franko Klisovics Counter (Sadrach) ist ebenfalls sehr homogen, die drei Tenöre Stefan Sbonnik, Christian Pohlers und João Terleira (Beltsazer, Cores, Daniel) machen ihre Sache genauso gut wie die die drei Sopranschattierungen von (Shira Patchornik, Theresa Immerz und Sara Gouzy (Adina, Barsine, Cyrene). Keiner und keine sticht aber vollkommen heraus.

Kunst ist auch dann gut, wenn sie unsere Weltanschauung auf den Kopf stellt. Dies tut dieser Abend sicher nicht. Dazu ist er … wie hieß doch gleich der Bach-Choral?

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke