Ludwigshafen. Das Stück war nach seiner Premiere vorigen Dezember in der Oper in Tel Aviv noch nie außerhalb Israels zu sehen. Die europäische Erstaufführung in Ludwigshafen ersetzte also, ohne weitere Erläuterung, das im Spielplan angekündigte Stück „A Good Citizen“ von 2019. Das Publikum im voll besetzten Haus nahm’s hin, applaudierte begeistert am Ende für die achtzehn Tänzerinnen und Tänzer in fast unermüdlichem Einsatz.
Um Müdigkeit, nein: das Überspielen dieses Zustandes schien es denn auch zu gehen in „Delusion“, dessen hebräischer Titel „Ta_atua“ sich übersetzen ließe mit Täuschung oder Wahnvorstellung. Der Choreograph Rami Be’er, der die Company im Kibbutz Ga’aton seit 1996 leitet, erklärt auf seiner Homepage, das Stück sei während der Corona-Zeit entstanden, als Abstandsregeln der Lockdowns Tanzarbeit erschwerten und Ungewissheiten sich bei einigen Leuten zu Misstrauen auswuchsen.
Doch sieht man dem Stück Ausgangssperren, Maskenzwang oder „Fake News“-Storys zum Glück nicht an, sondern es spielt auf Fragen an, wie Einzelne und eine Gesellschaft auf einem Flecken Erde zusammenleben, wo nichts stillsteht. Wo keine Nachtruhe möglich ist. Wo vor lauter Schlaflosigkeit halluziniert wird. Oder wo diejenigen, die schlafen, die Wirklichkeit nicht sehen wollen oder schlafwandeln.
Dann ist Showtime
So ließe es sich interpretieren; ob mit Bezug auf Israel oder die krisen- und kriegsgeschüttelte gesamte Welt, das ist alles offen. Die Köpfe hängen, jeder blickt zu Boden, sieht nichts mehr in der Ferne, klemmt am Nachbarn, irgendwie kommt man voran als Gruppe. Oder trippelt rückwärts. Später joggen sie sogar rückwärts, elegant federnd. Mal bilden sie einen tanzenden Kreis, aus dem jeder erst hinaus starrt, dann wendet und den in der Mitte Vereinzelten bedrängt, mal eine Art Pina-Bausch-Parade im gemessenen Gleichschritt und buchstabieren etwas mit den Händen zum Gesicht, zum Ellbogen, zur Brust.
Oder die Gruppe, Männer und Frauen in hässlichen Kurzkleidchen, tanzt flott und raumeinnehmend im Unisono, sie biegen die Oberkörper, strecken und runden Arme, nach vorn, hinten und oben, werfen Beine in die Senkrechte hoch. Dann ist Showtime. Bei all dem kraftvollen Einsatz ist nicht mehr zu erkennen, was diese schnellen Schlaufen sollen.
Die Compagnie
- Rami Be’ers Eltern, Architekt und Verlegerin, überlebten die Shoah, immigrierten 1948 ins soeben zum unabhängigen Staat erklärte Israel und waren Mitbegründer des Kibbutz Ga’aton im Norden des Landes. Sohn Rami wurde dort 1957 geboren, studierte auch Tanz und trat nach seiner Militärzeit und Einsätzen im ersten Libanonkrieg 1980 der von Jehudit Arnon 1970 gegründeten Kibbutz Contemporary Dance Company, kurz KCDC, bei.
- Bald choreographierte er, wurde 1987 Hauschoreograph. Inzwischen gibt es eine Junior-Company, und im 2006 „International Dance Village“ benannten Ort begehrte Sommerkurse für Profitänzer. Zuletzt war die KCDC 2015 in Ludwigshafen.
- Nächstes Tanzgastspiel im Pfalzbau: Ballet of Difference am Schauspiel Köln. 13.06, 19.30 Uhr, mit „Triple“. Zeitgenössisches Ballett auf Spitze, in Eile und mit Pop.
Fallen, Liegen, Aufbäumen, Aufstehen. Krabbeln, Rollen, Erstarren. Laufen. „Delusion“ ist vollgestopft, nervös, Szene folgt Szene, Tänzer rein und wieder raus, hier ein Solo mit Sprüngen, ausgebreiteten Armen, dort ein Duett, bei dem sich Mann und Frau seltsam beziehungslos umgarnen, dann lösen. Choreographisch ist das wenig bezwingend. Oder man sieht im sportiven Leerlauf der Tänzerschar Sinn. Das passt vielleicht.
Der schmale Ilya Nikurov hält das Ganze toll zusammen als traurige Narrenfigur im gelben Jackett, mit kurzen Hosen wie ein Pionier, wehendem Schlips und roten Strümpfen. Zu ihm gehört ein Köfferchen. Er ist ein Wandernder, ein sich Wundernder, der Schlaflose oder Träumende, der am Boden liegt und den Kopf hebt, der taumelt, kurz in der Gruppe mittanzt und sich wieder vereinzelt. Pirouetten dreht. Zittert. Der eine Handsirene kurbelt, allein auf weiter Flur: Er macht Lärm, keiner hört hin. Zuweilen gesellt sich ihm ein Text aus dem Lautsprecher bei, auf deutsch eingesprochen, aus dem Theaterstück „Die im Dunkeln gehen“ des israelischen Dramatikers Hanoch Levin von 1998. Eine „Sonderbare Sache“ sei es, dass ein bisschen Fußsohle den ganzen Menschen trägt, aus einem Schritt und noch einem Gehen wird und „dass Nacht ist“.
Be’er streift den Kitsch
Die Nacht durchdröhnt nun ein Musikmix vielerlei Herkunft, mit treibendem Beat, schnellem Ticken, tiefem Brummen, Herzschlagbumpern, Gitarre, Klavier, Songs und einem Walzer, in den Sirenen hineinjaulen. Manche Stücke wiederholen sich: alptraumhaft.
Mit der Tänzerin im weißen Flattergewand, einem Engel des unschuldigen Schlafes, und den Lücken in der Rückwand, in denen es rot glüht, wenn Tänzer dort hindurchziehen als unheimliche Erscheinungen, streift Be’er den Kitsch. Er verpackt ins Helle, Unterhaltsame, Unermüdliche die dunklen Schrecken der Erinnerungen oder Vorahnungen und macht das Entpacken beim Zuschauen nicht leicht. Mazel tov (viel Erfolg)!
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