Schauspiel

Wertvoll, auch wenn es weh tut - „R-Faktor: Das Unfassbare“ am Mannheimer Nationaltheater

Von 
Martin Vögele
Lesedauer: 
„R-Faktor: Das Unfassbare“ am Mannheimer Nationaltheater. © Nicole Marianna Wytyczak/NTM

Mannheim. Man weiß nicht, ob man lachen, weinen oder laut aufschreien soll. Vieles ist in der Tat so unerhört, so unglaublich, wie es der Titel dieses Theaterabends am Mannheimer Nationaltheater - „R-Faktor: Das Unfassbare“ - nahelegt. Da wird dem türkischstämmige Mann beim Vorsprechen für die Schauspielschule gesagt: „Sie schauen so speziell aus. Wo kommen Sie denn eigentlich her? Wir fragen nur aus Interesse.“ Er solle statt Hip-Hop oder R 'n' B das nächste was anderes nehmen, vielleicht was „folkloristisches“, wie „Shikidim“ von Tarkan, schlägt der Prüfer einer anderen Schule vor. Da ist die Filmregie-Studentin, die im Unterricht lernt: „Wenn Ihr mehrere schwarze Darsteller*innen am Set habt, setzt Ihr einfach einem ein Käppi auf, dann könnt Ihr die auch gut unterscheiden.“

Und da ist die Frau, die Kopftuch trägt, die Teil eines Stadttheaterensembles wird und sogleich mit einer Lesung zu „Gastarbeiter*innen-Prosa“ betraut wird, bei der auch Menschen aus der Community kommen, Tee trinken und sich austauschen - zumindest bis kurz vor Lesungsbeginn: „Alle Leute mit Migrationserbe wurden heraus gebeten, dann kam das richtige Publikum“, erzählt sie.

Ayşe Güvendiren

  • Ayşe Güvendiren wurde 1988 in Wien geboren.
  • Sie studierte Regie an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule. In der Spielzeit 2020/21 assistierte sie an den Münchner Kammerspielen und brachte dort den Theaterabend „R-Faktor: Das Unfassbare“ als Abschlussinszenierung ihres Studiums heraus. Dafür wurde sie mit dem renommierten Preis des Festivals Körber Studio Junge Regie in Hamburg ausgezeichnet.
  • Mit dem Themenwochenende „Kalmak – Bleiben“ (28. bis 31. Oktober) setzte sich das Mannheimer Nationaltheater vor dem Hintergrund des 1961 geschlossenen Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland mit der postmigrantischen Geschichte und Gegenwart auseinander.

„Heute Abend präsentieren wir Ihnen Geschichten von nicht weiß gelesenen Menschen aus dem deutschsprachigen Kunst- und Kulturraum“, heißt Schauspielerin Şafak Şengül das Publikums willkommen. „Sie alle verbindet die Erfahrung der Diskriminierung und Ausgrenzung – der R-Faktor, Rassismus und seine Reproduktion.“ Zusammengetragen wurden diese Erfahrungen von Ayşe Güvendiren: „R-Faktor“, eine Produktion der Münchner Kammerspiele mit der Otto Falckenberg Schule, ist die Abschlussinszenierung ihres Regiestudiums, die in Mannheim, beim „Kalmak – Bleiben“-Themenwochenende, zum ersten Mal live vor Publikum gezeigt wird.

Aufruf in den Sozialen Medien

Ausgehend von eigenen Erfahrungen hatte Güvendiren andere sogenannte BIPoCs (Black, Indigenous and People of Color) mit Rassismus-Erlebnissen via Instagram aufgerufen, mit ihr in Kontakt zu treten - und zahlreiche Rückmeldungen bekommen. Formal bezieht sich das Stück im Ornat einer politischen Late Night Show auf die fast gleichlautend betitelte US-TV-Serie „X-Faktor: Das unfassbare“, die mysteriöse Geschichten präsentierte, die entweder auf realen Begebenheiten basierten oder reine Fiktion waren. Am Ende konnte das Publikum raten, welche wahr und welche erfunden waren.

Wahre Geschichten der Diskriminierung

Bei „R-Faktor“ basieren alle Geschichten auf der Wahrheit, wird Şengül später bestätigen, die nicht nur auf der Bühne die Moderatorin mimt, sondern (eine bemerkenswerte Leistung) sämtliche Rollen und die im Off bleibenden Erzählstimmen spielt und spricht, die in Filmbeiträgen eingespielt werden. Die Figuren sind grell, parodistisch überzeichnet, die Kamera zoomt oft unmittelbar an ihre Gesichter, was sie noch lächerlicher – oder bedrohlicher - erscheinen lässt. Zwar arbeitet Güvendiren mithin mit dem „Comic Relief“, mit komödiantischer Brechung. Aber das Inhaltliche ist bitter, lässt einem immer wieder den Atem stocken.

30 Gespräche hat die Regisseurin geführt, und alle mit denen sie sprach, sind mit mindestens einem Erinnerungsfragment vertreten, woraus ein Erlebnis-Konzentrat von frappierender Dichte und Intensität entsteht. Vornehmlich wer sich der weißen Mehrheitsgesellschaft zugehörig zählt, mag da auch Hilflosigkeit empfinden, das Gefühl, sich schlechterdings kaum richtig verhalten zu können. „R-Faktor“ erscheint uns nicht als vorsichtig abwägendes Format, nicht als freundliche Einladung zum Dialog, sondern als eine schonungslos offensive Inszenierung - die sich damit auch selbst angreifbar macht und verletzlich zeigt. Dem Publikum bietet sie die wertvolle Möglichkeit zuzuhören, sich einzulassen auf die Erfahrungswelten anderer, gute 80 Minuten lang, ohne Gegenrede, auch wenn es schmerzt und unbehaglich sein sollte, auch wenn einem ein „aber ...“ auf die Lippen rutschen will. Einfach erst zuhören. Dann Nachdenken. Dann reden. Und die Dinge besser machen. „R-Faktor“ ist ein unbequemes, ein wichtiges Stück.

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen