Seinen ersten Kästner-Band erspähte Walter Sittler mit sechs in der Bibliothek seines Vaters. An den genauen Titel kann er sich nicht mehr erinnern, „aber der Band sah sehr eindrucksvoll aus.“ Es ist ein Eindruck, der sich konserviert hat. Denn wenn der populäre Schauspieler am 3. und 4. August ins Mannheimer Nationaltheater zurückkehrt, wird er dabei nicht nur an den Beginn seiner großen Karriere auf der Schiller-Bühne denken - auch die ganz subtile Moral eines Erich Kästner will uns der heute 66-Jährige mit nach Hause geben.
Dabei standen die Vorzeichen einer Passion für den großen Autoren des 20. Jahrhunderts bei den Sittlers zunächst unter keinem guten Vorzeichen. Sittlers Vater, selbst Literaturprofessor, hatte es wenig mit moderner Literatur, auch die Buchhandlungen präsentierten den Zeitgenossen nicht gerade in der vordersten Reihe - und so war es die Schulzeit, die beim jungen Walter ein tiefes Interesse weckte, das sich bis heute nie verlor. Zum einen, weil Sittler sich magisch angezogen fühlte von dieser „unglaublich schönen, unfassbar reichen und für jeden verständliche Sprache“, die einen „hinter den Zeilen das entdecken lässt, was tatsächlich da ist.“ Zum anderen aber auch, weil bereits der junge Schauspieler Walter Sittler die Banalisierung kluger Kinderliteratur als „Schutzreflex einer Hochkultur von gestern“ versteht („Der Brustton der bürgerlichen Elite geht mir gehörig auf die Nerven“), sich massiv für Köpfe wie Tucholsky, Ossietzky und Kästner stark macht - und damit die persönlichen Stützpfeiler zwischen Ernst und Unterhaltung endgültig einreißt. „Wenn Sie ‚Emil und die Detektive’ lesen, ist das vordergründig eine Kindergeschichte, aber die politische Haltung dahinter spürt man sofort“, wie Sittler die Denkweise jenes Autoren adelt, für dessen Werke er sich auch als routinierter Schauspieler erst bereit fühlen musste.
Zu Unrecht vergessene Werke
„Eigentlich wollte ich nie allein auf der Bühne stehen, habe nie in einer Kästner-Verfilmung mitgespielt - das sind Stoffe, die du nur spielen kannst, wenn du der geworden bist, der sie mit jeder Faser verkörpert“, wie Sittler über sein Zögern räsoniert - und den Schritt im Jahr 2006 dann dennoch wagt. Mit zwei Programmen des deutschen Poeten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und Kästners Kontraste radikal ausleuchten. Auf der einen Seite der fast schon zärtliche Stoff „Als ich ein kleiner Junge war“, mit dem ein junger Kästner den unverstellten autobiographischen Blick auf ein Deutschland mitten im Ersten Weltkrieg ebnet. Auf der anderen Seite mit „Prost, Onkel Erich“ eine gereifte Sammlung voller Lebenserfahrung zwischen feinsinniger Prosa und inspirativer Lyrik.
Nicht umsonst begreift Sittler die präsentierten Texte als „völlig zu Unrecht vergessene Meisterwerke der Literatur“. Denn wenngleich sich Kästner für Sittler nie einer „künstlich erhabenen Sprache“ bediente und bewusst „Gebrauchslyrik“ geschrieben habe, seien „seine Gedichte wie ein gutes Bonbon“, das „das Entscheidende kostbar“ mache. Ein Bonbon, dessen Geschmack Sittler ganz offensichtlich auch nach über einem Jahrzehnt und nunmehr über 400 gespielten Auftritten noch nicht vergangen ist.
Anfänge in den 1980er Jahren
Einerseits, weil eine Jugend, „die von virtuellen Realitäten komplett übersättigt daherkommt“, mit Projekten wie Fridays for Future unter Beweis stelle, dass sie „sehr wohl versteht, was da gerade für Dinge auf der Welt vor sich gehen.“ Andererseits, weil die Suche nach Gerechtigkeit für Sittler - da ist er Kästner ganz nah - kein Ende nimmt. Wenn der 66-jährige Mime im Gespräch klarstellt, es gehe ihm „immer wieder darum, die Menschen zu erreichen“, ist das nicht als Plattitüde, sondern als Aufruf an sich selbst zu verstehen, die Felder zwischen Macht und Misstrauen kunstvoll auszuleuchten, um Menschen nachhaltig zu erhellen. Dabei setzt Sittler in Mannheim nicht nur auf die Kästnersche Philosophie, der es gelinge, „auf ganz freundliche Art ins Denken einzusickern“, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu erheben. Auch auf seine Zeit unter Jürgen Bosse im Nationaltheater blickt Sittler mit „großem Enthusiasmus“ und freut sich ganz im Sinne der bevorstehenden Vorstellungen „wie ein Kind“, wieder einmal in jenem Haus gastieren zu dürfen, in dem für den jungen Nachwuchsmimen in den 1980er Jahren alles begann.
Knapp vier Jahrzehnte später vibrieren Sittlers Abende zwischen Revolution und Resignation, doch „das Leben besteht aus Hoffnung und Verlusten. Daran können Sie verzweifeln, oder sagen: So ist es. Kästner vollendet das Letztere.“
- Walter Sittler wurde am 5. Dezember 1952 in Chicago, Illinois, als Sohn eines Literaturprofessors und einer Übersetzerin geboren.
- Nach Erfahrungen als Krankenpfleger und Zeitsoldat studierte Sittler an der Münchener Falkenberg-Schule Schauspiel und spielte von 1981 bis 1988 unter Schauspieldirektor Jürgen Bosse am Mannheimer Nationaltheater.
- Einem Millionenpublikum wurde Sittler an der Seite seiner Schauspielkollegin Mariele Millowitsch in der Sitcom „Nikola“ bekannt.
- In der Folge war Sittler in Thrillern wie „Churchill“ (2002), aber auch melancholischen Kriminalfilmen wie „Der Kommissar und das Meer“ zu sehen.
- Mit den Programmen „Als ich ein kleiner Junge war“ (3. August, 20 Uhr und 4. August 15 Uhr) und „Prost, Onkel Erich!“ (4. August, 20 Uhr) kehrt Sittler nun ans Nationaltheater zurück.
- Restkarten ab 29,90 Euro gibt es an der Theaterkasse des Nationaltheaters sowie über die Homepage des Veranstalters unter www.bb-promotion.com. (mer)
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