Budapesta-Straße 1. Ich sitze im Goethe-Institut der eineinhalb Millionenstadt Sofia. Wir sind eine große Runde mit der Freien Szene und den Gewichtigen der Theaterschaffenden. Es geht um ein Gastspiel des im Juli in der Neckarstadt-West erarbeiteten bulgarisch-deutschen "Sturm". Schnell ist klar: kein Geld, kein Publikum für einen deutsch-bulgarischen Shakespeare. Selbst wenn man billig zwei Tage mit dem Bus anreiste: Wie soll ein Publikum gefunden werden?
Am nächsten Tag zeige ich im Forum des Instituts den "Sturm"-Film. Die Begeisterung ist groß. Aber es sind die Deutsch-Kurse, die im Zentrum der Arbeit stehen. Mein Ziel für ein "Sturm"-Folgeprojekt ist, neben den Bulgaren und den Neckarstädtern auch Syrienflüchtlinge in eine zweite Theaterarbeit zu integrieren.
Viele der zu uns kommenden Flüchtlinge suchen den Weg über Bulgarien. Das größte und wohl schlimmste erste europäische Lager nah der türkischen Grenze befindet sich in Harmanli, ein kleineres nahe Sofia. Vergewaltigungen, Schläge, Bespucken, Hunger, keine Toiletten, keine Betten - die Brutalitäten sind unbeschreiblich. Historisch ist die Haltung der Bulgaren erklärlich. Unbegreiflich ist sie trotzdem.
Dringlich wäre hier einzugreifen - auch durch die Kunst des Theaters. Die Mehrheit der Gruppe der Film-Begeisterten meint allerdings: Dringlicher und angebrachter wäre es, mit jungen Menschen in den Vorstädten der bulgarischen Metropole zu arbeiten. Hier seien die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung monströser. Und wie all das mit der Neckarstadt zusammenbringen? Ich könnte in Sofia mit Hilfe des Goethe-Institutes und vieler Theaterleute die ich nun kenne "Sinnvolles, Sozial-Kunstgewichtiges" zustande bringen - aber - ohne Monate vor Ort zu sein? Denkbar wäre, einen bulgarischen Partner Szenen erstellen zu lassen, die man in die neue Mannheimer Shakespeare-Arbeit integriert. Eine kleine Zusatzgruppe also. Aber in Bulgarien in die Völkerwanderung eingreifen zu wollen, diese gar, wenn auch zu einem kleinsten Teil, aufhalten zu wollen - wäre unsinnig und verwerflich.
Rennt man, wie ich, zwei Tage lang durch die historischen, meist unterirdischen Kunst-Einmaligkeiten der Stadt (Sofia ist die älteste der städtischen Ansiedlungen Europas), so verzweifelt man. Warum kommen so viele Bulgaren nach Mannheim? Was trennt diese Menschen von der Hoffnung, von der Tatkraft, ihr Sofia, ihr Bulgarien nun, nach aller wenn auch nur halben Wende, neu gestalten zu wollen? Nur die immer noch nicht Mafia-freien Strukturen der Herrschenden, die Ausbeutung durch die neuen Reichen?
Anpacken, verändern, aufbauen
Eine so ungeheuerlich schöne Stadt (trotz aller Zerstörung durch die Bomben der Amerikaner, durch die Bauten Stalinscher Grausamkeit) - da müsste man anpacken, verändern, aufbauen! Zu Viele fliehen das Land, nachdem sie im Goethe-Institut Deutschkurse besuchten. Zu wenige, auch keine Theatermacher bestärken sie mit Inbrunst zu bleiben.
Das "Sturm"-Projekt war ein verteufelt schweres, doch ganz einfach: Es galt, ein Zeichen zu setzen, damit in der hohen Sprache des Deutschen der Europäer Shakespeare in seiner präzisen und auf ein Heute zu beziehenden Kolonialkritik zum Tragen kam. Volkstheater in sehr seltenem, heutigem Sinn konnte entstehen, weil die Arbeit versuchte, den Stadtteil versöhnen zu helfen, vielleicht ein klein wenig lieben zu lernen. Die Ausbeutung durch die Wirtschaft der Reichen füllt die Schlepperboote. Die Bombardierung des Irak und anderes ließ den IS entstehen. Die Fassbomben des syrischen Potentaten sind nur mörderische Folge von vielem, was Europa versäumte. Heute nehmen wir Deutschen Menschen auf, deren Flucht wir mitverschuldet haben.
Für mich gilt es in den nächsten Monaten einen sozial-politisch präzisen Ansatz zu finden, vielleicht mit den in Mannheims Kasernen Hausenden oder manchem schon bis in die Neckarstadt-West gelangten syrischen Asylanten - gemeinsam mit meinen bulgarischen Freunden und den Ur-Bewohnern des Stadtteils - einen Angang zu einem zweiten Theater-Projekt in dem herrlichen Gestänge der Baugerüste im Hof des alten Volksbades und der heutigen Quartiermeisterei zu finden. Ich arbeite daran.
Hansgünther Heyme
Die Karriere des 1935 in Bad Mergentheim geborenen Theatermanns begann in Mannheim: 1956 war er Regieassistent bei Erwin Piscators "Räuber"-Inszenierung zur Wiedereröffnung des Nationaltheaters, an dem er dann auch selbst inszenierte.
Später war Heyme Oberspielleiter am Staatstheater Wiesbaden, Schauspieldirektor in Köln, Stuttgart und Essen sowie Generalintendant in Bremen sowie (190-2002) Leiter der Ruhrfestspiele Recklinghausen.
Von 2004 bis 2014 war Heyme Intendant des Theaters im Pfalzbau Ludwigshafen. Im Juli 2015 zeigte er in Mannheim Shakespeares "Sturm" eindrucksvoll als Welttheater im Hinterhof des Alten Volksbades in der Neckarstadt-West mit deutschen und bulgarischen Akteuren. rcl
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