"Wir sind traurig", heißt es ganz zu Beginn. Warum? Die Antwort folgt gleich darauf: "Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot." Aha, aber wer ist "wir"? Niemand anderes ist es als ein ganzes Dorf, seine kollektive Seele sozusagen, denn der jetzt mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrte neue Roman des Schriftstellers Sasa Stanisic, "Vor dem Fest", erzählt eben davon - von einem Dorf in der Uckermark in Brandenburg und was sich dort so alles zuträgt, am Abend und in der Nacht vor dem "Annenfest", dessen Begehen der wohl typischste Ausdruck der dörflichen Kultur ist.
Offenbar war der Fährmann einer, der die Richtung vorgab. Fremde geleitete er zum Dorf Fürstenfelde, zu dem man am einfachsten über einen See gelangte, und weil dieser Mann nun tot ist, scheint das Erzähler-Wir etwas durcheinander. Den Weg zum Dorf finden ohnehin nicht mehr viele, aber vielleicht ist es gerade deshalb so ein interessanter Platz, wo Geschichte und Gegenwart sich reizvoll, aber nicht immer leicht überschaubar berühren.
Beliebter Treffpunkt
Einige der Bewohner stellt uns das Buch näher vor, Frau Schwermuth etwa, die nicht umsonst so heißt, sich um die Dorfchronik kümmert und um das Heimatmuseum. Am letzten Sommertag, vor dem Fest, sind noch andere mit Vorbereitungen beschäftigt. Der Besitzer einer Trinkhalle etwa, die eigentlich nur eine Garage ist, aber trotzdem zum beliebten Treffpunkt junger und alter Biertrinker wurde.
Wilfried Schramm hingegen ist mit anderen Vorbereitungen befasst: Der ehemalige Offizier der Nationalen Volksarmee will sich umbringen, was Anna aber verhindert - Anna, die angehende Studentin, die das Dorf verlassen wird. Es gibt einen Schweinezüchter und einen ehemaligen Briefträger, Dietmar Dietz, der die Post im Auftrag der Stasi kontrollierte und jetzt die Eier seiner Hühner verkauft - und es gibt einen weiblichen Fuchs, der gleichfalls Eier schätzt, sie für seine Welpen stehlen will und als gleichberechtigte Handlungsfigur auftritt. Zudem wird man etwa mit einer alten Malerin, Frau Kranz, bekannt gemacht, mit dem stummen Suzi oder zwei merkwürdigen, fremden Gestalten, die ebenfalls an diesem Spätsommerabend unterwegs sind.
Ins Heimatmuseum wird eingebrochen, ohne dass etwas abhanden zu kommen scheint, die Glocken stehen aus ebenfalls nicht leicht einsehbaren Gründen am Seeufer, statt im Turm zu hängen. Oft glaubt man, das deute noch auf ein großes, weiteres, alles erklärendes Vorkommnis hin, doch dann wird man wieder ernüchtert, obgleich Stanisic doch so ausladend zu fabulieren versteht.
Immer wieder fügt er historische Episoden ein, Sagenhaftes auch, das aus der Chronik stammt oder direkt aus Frau Schwermuths Imagination. Ein Kesselflicker soll einen Ring gefunden haben, der unsichtbar machte, ein Junge mit "Wolfshunger" wurde geboren, der alles verschlang, ein Ferkel mit lächelndem Menschengesicht. Der "Pestteufel" war zu Gast, und der historische Stadtherr Poppo von Blankenburg führte ein eigenwilliges Regiment.
Trinkfreudig und schlagkräftig ging man hier früher wie heute zur Sache, was ein ärmlicher Außenseiter zu spüren bekommt. Der Gemeinsamkeiten sind noch viel mehr, wie der Autor durch wiederkehrende Motive oder ähnliche Namen nahelegt; historische Vorläufer haben alle Beteiligte. Und besonders in dieser Nacht ist die Vergangenheit präsent, an Kriegsende, DDR und Wendezeit erinnert man sich, und immer wieder ist von Bränden die Rede. Denn im Grunde genommen erzählt dieses bemerkenswerte Buch ja überhaupt von Werden und Vergehen, vom Leben als solchem, in der Provinz oder anderswo. Geschichten ereignen sich überall, die Historie macht vor nichts Halt. Es bedarf nur eines sprachmächtigen Autors, der die Flut des Lebens in Erzählflut übersetzt und sie zu bändigen weiß.
Zuweilen denkt man, das Erzählen genüge sich hier doch zu sehr selbst, dann wäre der Tod des Fährmanns ein fatales Signal. Im Grunde aber übernimmt dessen Aufgabe der Autor, gibt Zeugnisse seines stupenden Vermögens und behält die Übersicht. Man muss angesichts des Abends und der Nacht von Fürstenfelde nicht gleich den Vergleich mit James Joyce, mit dem Tag des "Ulysses" und der Nacht von "Finnegans Wake", bemühen, ein bedeutender Erzähler bestätigt sich in diesem geschichten- und geschichtsträchtigen Buch aber ganz gewiss.
Der Schriftsteller Sasa Stanisic
Der Autor Sasa Stanisic wurde 1978 in Bosnien-Herzegowina geboren, floh 1992 mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland und lebte dann einige Jahre in Heidelberg, wo er auch zu studieren begann.
In seinem erfolgreichen, in 30 Sprachen übersetzten Debütroman "Wie der Soldat das Grammofon repariert" verarbeitete er die eigenen Erfahrungen mit Krieg und Heimatverlust und gab ein eindrückliches Zeugnis seines Fabuliervermögens.
Im vergangenen Jahr weilte Stanisic, der heute in Hamburg lebt, in Mannheim als "Feuergriffel"-Stipendiat. Er arbeitete dort an einem Jugendbuch, das noch nicht veröffentlicht ist.
Der Roman "Vor dem Fest" ist bei Luchterhand erschienen (317 S., 19,99 Euro), als Hörbuch im Hörverlag.
Stanisic liest aus seinem Roman heute, 20 Uhr, im Heidelberger Deutsch-Amerikanischen-Institut und am morgigen Freitag, 20.30 Uhr, in der Thalia-Buchhandlung in Mannheim (P 7,22). tog
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