Heidelberg. Die Bühne des Marguerre-Saals ist offen, mit Weihrauch geschwängerter Nebel erlaubt nur diffuses Licht. Auftritt Cleo Diára, Isabél Zuaa, Nádia Yracema in rot-weiß gestreiften Kostümen, die an die Landesfarben der Kapverden erinnern. Begleitet von Trommeln und kreolischen Gesängen aus Guinea-Bissau und der Inselgruppe im Atlantik beschwören sie tanzend die Geister ihrer Vorfahren, ihrer Mütter, bitten um Kraft für Körper und Geist.
Bis auf eine beeindruckend fein gewebte, indigene Maske aus dünnen Metallfäden - stellvertretend für alle Vorfahren aus den ehemaligen überseeischen Kolonien Portugals im Hintergrund installiert - ist der Bühnenraum völlig leer. Doch die drei Performerinnen füllen ihn durch ihre starke physische Präsenz völlig aus. Zunächst auf Kreol, dann auf Portugiesisch rufen sie auch „Doña Maria da Gloria“ - im 19. Jahrhundert Königin von Portugal - an, um sie als „Schwester“ für ihre Sache zu gewinnen.
Selbstermächtigung, das Recht, für sich zu sprechen
Sie wollen nichts weniger zurückgewinnen als die Deutungshoheit über das jahrhundertelang erlittene Leid während der Kolonialzeit der Europäer. Das Schweigen beenden. Vergeblich jedoch appellieren sie an den Geist der weißen Aristokratin Maria II., die wie sie den Weg aus Übersee nach Europa antrat. Aber Maria II. kam 1833 aus Rio de Janeiro nach Portugal, um zu herrschen, und nicht, wie die abertausenden schwarzen Frauen aus den ehemals portugiesischen Kolonialgebieten, um als billige Arbeitskräfte und Menschen zweiter Klasse ihr Dasein am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie Europas zu fristen.
Dann berichten die drei Akteurinnen von ihrer ganz persönlichen Migrationsgeschichte, erzählen davon, wie sie mit brasilianischen Telenovelas ihr Heimweh stillten, tanzen ausgelassen. Bis sie eine Stimme auf dem Off unterbricht. Die intime Szene entpuppt sich, in dramaturgischer Hinsicht etwas überraschend, als Casting für eine Show ohne Namen.
Verletzende stereotype Vorstellungen
Als die Regisseurin von ihnen verlangt, das europäische Publikum mit „primitiven afrikanischen Bewegungen“ zu bedienen, sie auffordert, „das wilde Tier“ rauszulassen, steigen die Bewerberinnen aus und verschwinden, von einer Kamera begleitet, in der Garderobe, wo sie in schrille, sexy Outfits wechseln.
„Eine glückliche schwarze Frau ist ein revolutionärer Akt.“
Zurück auf der Bühne haben Diára, Zuaa und Yracema ihren großen Auftritt: Zu lateinamerikanischen Rhythmen, Hip-Hop und Techno tanzen und rappen sie an gegen vielfältige Formen von Alltagsdiskriminierung in Beruf und Ausbildung, feiern ihre schwarze Haut und beschwören, unter Anrufung zahlreicher schwarzer Aktivistinnen, eine „schwarze Morgenröte“. In Anlehnung an die Sentenz der schwarzen Aktivistin und Feministin Audre Lorde von der „Fähigkeit, einander Freude zu schenken“, als „revolutionärem Akt“, deklamieren die Akteurinnen die „glückliche schwarze Frau“ als „Revolution“.
Nach einer kurzen, raumgreifenden Videoprojektion schwarzer Pietás, die vor dem Hintergrund des Meeres ihre toten schwarzen Männer in ihren Armen halten, stehender Applaus eines ergriffenen Publikums.
Bedrohlicher Mikrokosmos „GUNS“
Während im Alten Saal des Stadttheaters schon eine Festival-Party steigt, ist im Kinder- und Jugendtheater mit „Guns“ die deutsche Erstaufführung des erst auf den zweiten Blick verstörenden Stücks der freien uruguayischen Theatergruppe „El Almacén“ zu sehen. Nach einem heiteren Einstieg über „Super-Clown“, der durch sein Puppenspiel alle retten soll, wartet Regisseur André Hübener mit einem Panoptikum von Figuren auf, die das 80-minütige Stück in einen bedrohlichen Mikrokosmos verwandeln.
Typen statt Charaktere
Auf der offenen Bühne in Form einer an beiden Seiten verkürzten Skaterbahn in der Mitte des Theaterraums Zwinger 1 geben skurrile Typen wie Ex-Profifußballspieler „Hulk“ mit zu großem Gebiss oder Spießbürger „Cabrera“ mit weißen Socken in den offenen Sandalen Einblick in die Welt uruguayischer Bürger und Bürgerinnen, die sich im Viertel „Schöne neue Welt“ zu zwei gewaltbereiten Aktionsgruppen zusammengeschlossen haben.
Mikro-faschistische Bürgerwehren „Nachbarn in Alarmbereitschaft“
Die beiden Gruppierungen „Besseres Zusammenleben“ und „Wachsamer Nachbar“ sind den Bürgerwehren „Vecinos en alerta“ („Nachbarn in Alarmbereitschaft“) nachempfunden, wie sie zurzeit tatsächlich in Uruguay immer häufiger entstehen. Vor allem in Montevideo bewaffnen sich Bürgergruppen selbst und erhoffen sich durch die Installation von Überwachungskameras mehr Sicherheit. Zwar ist in dem kleinsten spanischsprachigen Land Südamerikas der Waffenbesitz nicht erlaubt, aber die Polizei nimmt es mit Kontrollen nicht so genau, so der Regisseur in einem Interview.
Gefühl der Verunsicherung
Auch in „Guns“ ist die Tatanalyse durch den Detektiv, der den Mord an einer Journalistin aus den Reihen einer der beiden Gruppierungen aufdecken soll, eine reine Farce. Zwar wird die südamerikanische Kriminalgeschichte am Ende aufgeklärt, aber der Mord bleibt ungesühnt, weil sich die Polizei für nicht mehr zuständig erklärt. So hinterlässt diese Persiflage eines „Whodunit“ um illegitime Machtverhältnisse ein Gefühl der Verunsicherung, das uns in Deutschland, wenn auch aus anderen Gründen, ebenfalls bekannt ist.
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