Herr Schmiedleitner, brauchen wir 2016 noch Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe"?
Georg Schmiedleitner: Ja, weil es ein erstaunlich aktuelles Stück ist. Es spricht das Problem an, von dem wir heute täglich lesen: Die große Macht der Banken und Wirtschaftskonzerne, die über die Menschheit drüber fährt und Mitschuld trägt an einer immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich. Das ist so absurd, macht die Menschen zornig, lässt sie sich ohnmächtig fühlen und ist mitverantwortlich für manche überraschende Wahlergebnisse. Und das hat Brecht damals erkannt.
Doch die Menschheit hat mal wieder nichts daraus gelernt.
Schmiedleitner: Es ist erschütternd, dass wir nichts dazu gelernt haben, dass die Menschheit nach wie vor so funktioniert, dass die Mächtigen in Krisen profitieren und über den naiven Ansatz zur Kritik drübergewalzt wird. Das ist auch der Befund dieses Stückes. Das soll den Zuschauer emotionalisieren und vielleicht auch zum Zorn reizen.
Wie stark hat Sie die Tagespolitik bei der Inszenierung beeinflusst?
Schmiedleitner: Eigentlich könnte man während der Inszenierung dauernd unterbrechen. Jeder Satz ist überprüfbar an heutigen Wirtschaftsmeldungen. Das Stück ist so heutig, dass man es gar nicht mehr zusätzlich aktualisieren muss.
Sie haben schon Schillers "Jungfrau von Orleans" inszeniert. Brechts Johanna ist konträr. Welche Johanna brauchen wir heute?
Schmiedleitner: Ich glaube, es würde noch einen dritten Johanna-Versuch brauchen, von einem modernen Autor. Eine heutige Johanna würde eine Aktivistengruppe gründen, eine Internetplattform oder eine Zeitung.
Für Brecht ist Theater eine Institution zur Veränderung der Gesellschaft. Für Schiller ist es eine moralische Anstalt. Was kann Theater Ihrer Meinung nach?
Schmiedleitner: Das Theater kann die Welt nicht verändern. Ich würde sagen, Theater braucht man heute als Anstalt, um nachsehen zu können, welche Ängste die Menschen haben, wie die Machtverhältnisse sind. Und das verändert schon den Menschen. Zumindest für einige Stunden. Wir sind aber weder ein Institut für die Weltveränderung noch eine moralische Anstalt. Theater kann anhalten, staunen, belustigen. Mehr ist nicht drinnen. Theater ist eine Kassandra, die warnt, die ständig ruft, seit 2000 Jahren.
Kassandra bleibt aber ungehört...
Schmiedleitner: Ja, manchmal hört gar niemand zu, manche Häuser sind sehr schlecht besucht. Doch letztlich kommen die Leute doch, denn die große Stärke des Theaters ist, Geschichten zu erzählen. Wir sind heute ausgehungert, wollen ganz simpel eine einzige Geschichte erzählt bekommen - in der wir oft mehr verstehen als bei tausenden Geschichten.
Brechts Theater zielt auf eine subtile Belehrung ab, Schiller will erziehen. Was liegt Ihnen näher'?
Schmiedleitner: Wir haben heute einen hochinformierten Zuschauer. Trotzdem muss man ihm Dinge zeigen, die ihn erschüttern. Ich brauche Energie im Theater. Das stärkste, was Theater liefern kann, ist ein energetischer Zustand, in dem der Zuschauer staunt, provoziert wird, vielleicht auch protestiert. In dem er in eine Bilderwelt abtauchen kann, die er sonst nicht erlebt. Dort, wo der Mensch müde ist, nicht weiter denken will, bleibt das Theater dran.
Ein großes Ziel in einer multimedialen Welt
Schmiedleitner: Das stimmt. Man muss sich also immer verändern. Meine Inszenierung spielt in einem Kino - der Illusionsmaschine der heutigen Zeit.
Damit holen Sie - ganz nach Brecht - das Publikum an einer Stelle ab, die es gut kennt.
Schmiedleitner: Genau. Kino ist ja voller Emotionen, es wird zur Bühne und zeigt damit die Kernaussage des Stückes: Die großen Illusionen sind nicht kompatibel mit der Realität. Johannas Operationalisierung ihrer Ideen haut nicht hin. Und da ist sie natürlich ähnlich wie viele politische Führer, die mehr im Theoretischen schwelgen und in der Praxis oft scheitern.
Gibt es heute also noch Johannas?
Schmiedleitner: Es gibt heute viele Formen von Johannas. Die neuen Online-Plattformen finde ich toll. Dass man eine Botschaft als Team verschickt und nicht unbedingt einen braucht, der an der Spitze steht, das finde ich sympathisch. Heute ist ein Team viel spannender als eine Führerfigur.
Also können uns diese Plattformen heute davor bewahren, als Johannas für unsere moralischen Überzeugungen sterben zu müssen.
Schmiedleitner: Genau. Letztlich ist die Kontrolle eines Teams stärker und lässt eine alte Johanna nicht mehr zu. Das ist erfrischend und eine große Hoffnung.
Georg Schmiedleitner
- Der österreichische Regisseur, 1957 in Linz geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften in Wien. Von 1983 bis 1989 war er künstlerischer Leiter der Experimentalbühne "Spielstatt Junge Bühne" sowie Mitbegründer des Theater Phönix in Linz.
- Heute arbeitet er als Regisseur etwa am Burgtheater Wien. Am Mannheimer Nationaltheater inszenierte er u.a. "Die Jungfrau von Orleans", "Maria Stuart" und "Homo faber". Premiere von "Heilige Johanna der Schlachthöfe": Samstag, 12. März, 19.30 Uhr. bim (Bild: bim)
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