Interview

Terri Lyne Carrington spielt in Mannheim bei Enjoy Jazz

Im Interview spricht die Schlagzeugerin über ihr Enjoy-Jazz-Projekt "Seen/Unseen", das sie am 29. Oktober bei Enjoy Jazz vorstellt sowie über politische Kunst und den Kampf der Aproamerikaner um Gleichberechtigung

Von 
Georg Spindler
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Spielt am 29. Oktober im NTM auf Franklin und am 30. Oktober bei Enjoy Jazz: Terri Lyne Carrington. © Michael Goldman

Frau Carrington, kann man das, was Sie in Mannheim aufführen werden, als eine Collage aus Musik, Tanz, Text und Kunst bezeichnen?

Terry Lyne Carrington: Genau. Wir haben einen Tänzer, Spoken-Word-Elemente, und Mikalene Thomas fügt verschiedene Arten visueller Kunst hinzu, während wir live spielen. Der Abend besteht aus einem einzigen, langen Stück von mir. Es ist weitgehend durchkomponiert, hat aber auch Improvisationsteile.

Welche Rolle spielt Mikalene Thomas? Ich habe gelesen, dass sie wie eine Improvisatorin mit ihren Projektionen spontan auf die Musik reagieren kann. . .

Carrington: Ja, sie hat ein Programm, mit dem sie Dinge abrufen kann, die sie in einem bestimmten Moment einspielen und zeigen möchte. Wenn sie zum Beispiel tausend Visuals hat, Standbilder, Videos oder bewegte Sequenzen, kann sie spontan entscheiden, was sie davon auf die Leinwand bringt und wie sie diese Sachen überblendet. Jede Performance von ihr ist anders.

Um was geht es in dem Stück?

Carrington: Das Stück heißt „Seen/Unseen“ und es handelt von den Erfahrungen schwarzer Frauen, denn sie sind sichtbar und zugleich unsichtbar. Sichtbar als manchmal übersexualisierte oder auch als unattraktiv verunglimpfte Wesen, aber unsichtbar in ihrer Menschlichkeit. Und von der Gesellschaft werden sie gleich zweifach unterdrückt: Weil sie schwarz sind und weil sie Frauen sind.

Knüpft Ihr Multimedia-Konzept an die afrikanische Kulturtradition an, bei der es ja keine Genregrenzen gibt zwischen Musik, Tanz, Malerei, Gesang und Theater?

Carrington: Ja, es ist schon von der afroamerikanischen Erfahrungswelt geprägt, in der es diese Trennungen nicht gibt. Tanz, Musik, Dichtung – das war in der schwarzen Erfahrung früher einmal alles miteinander verbunden. Der Jazz hat dann im Lauf seiner Entwicklung in mancher Hinsicht die klassische Musik imitiert. Das begann damit, dass man in ein Theater oder eine Konzerthalle ging und sich hinsetzte, um zuzuhören. Als der Bebop entstand, ist genau das passiert, Jazz bekam den Respekt, den die Musiker sich wünschten. In dieser Entwicklung ist der Tanz aber völlig von der Bildfläche verschwunden, früher wurde ja zu Jazz getanzt. Ich bin daran interessiert, diese verschiedenen Aspekte wieder miteinander zu verknüpfen.

Sie treten auch mit einem Streich- und einem Bläser-Quartett auf. Wie sind deren Beiträge in den musikalischen Prozess involviert?

Carrington: Ich konnte mir beim Komponieren ganz genau vorstellen, wie diese Instrumente klingen würden. Ich wusste, wann ich die Streicher einsetzen wollte und wann die Bläser. Was sie spielen sollten, spielte ich auf meinem Synthesizer, machte eine Demo-Aufnahme und legte das meinem Orchestrator Edmar Colon vor, der dann die Partituren schrieb. Er wird das Stück in Mannheim auch dirigieren. Bei der ersten Aufführung war „Seen/Unseen“ übrigens für ein 70- köpfiges Orchester konzipiert. Was Sie bei Enjoy Jazz hören werden, ist eine Reduktion dieser Orchester-Arrangements.

Komponieren Sie eigentlich auch am Schlagzeug?

Carrington: Schon auf Keyboards. Ich benutze mein Piano gar nicht mehr, obwohl ich einen wunderbaren Flügel zu Hause habe.

Das Schlagzeug ist also nicht die Basis Ihrer Musik?

Carrington: Nein. Nie.

Aber ist es nicht so, dass Trommeln mehr sind als Rhythmusinstrumente? Sie können doch auch sprechen: als Kriegstrommeln, als religiöses Trance-Instrument, und wenn man sie sanft mit dem Besen streichelt, können sie auch von Liebe erzählen?

Carrington: Damit liegen Sie absolut richtig. Aber ich denke nicht in diesen Kategorien. Denn all das ist in mir, in meiner Persönlichkeit. Ich bin ein komplettes menschliches Wesen. Wenn ich spiele, dann kommt das alles aus mir heraus. Also, ich spiele wie eine Kämpferin, eine Soldatin, eine Tochter, eine Liebende Ich muss das aber nicht analysieren. Es ist einfach da.

Fühlen Sie sich mit „Seen/Unseen“ einer Jazz-Tradition politischer Werke zugehörig, wie Max Roachs „We Insist! Freedom Now Suite“ oder Archie Stepps „Attica Blues“?

Carrington: Ja, klar. Die Verbindung besteht einfach darin, dass wir, die Afroamerikaner, eine unterdrückte Gruppe sind. Über diese Dinge zu sprechen, ist Teil unseres täglichen Lebens, unserer Existenz. Der Kampf, den wir alle erlebt haben, ist immer noch gegenwärtig. Polizeiwillkür, Tötungen und Gefängnisstrafen sind Teil der schwarzen Erfahrung.

Glauben Sie, dass das europäische Publikum anders auf diese Themen reagiert als das US-amerikanische?

Carrington: Ich habe den Eindruck, das europäische Publikum ist manchmal etwas hipper als das amerikanische, also die Leute, die kommen, um sich ein Jazzkonzert anzuschauen. Ich glaube, sie wollen verstehen, was ich sage, auch wenn es nicht ihr kulturelles Problem ist, um das es geht. Aber natürlich gibt es auch Berührungspunkte; Deutschland hatte ja, lassen Sie es mich so ausdrücken, definitiv so seine Probleme mit Vorurteilen, Rassismus und Bigotterie. Viele europäische Länder haben Afrika und andere Teile der Welt kolonialisiert, und das haben sie aus einer Perspektive des Patriarchats heraus getan. Das gibt es überall, aber das Patriarchat, das ich hier anspreche, besteht aus Rassismus, Sexismus und weißer Vorherrschaft. Ich denke, das kann man verstehen, egal wo man lebt.

Sie werden ja auch im Duo mit der Pianistin Anke Helfrich spielen, deren Komposition „Upper Westside“ sie in ihr viel beachtetes Buch „New Standards“ aufgenommen haben, in dem Sie Kompositionen von Musikerinnen gesammelt haben. Wie kamen Sie mit ihr in Kontakt?

Carrington: Ich habe schon einmal mit ihr gespielt, 2017, bei einem Konzert, das Siggi Loch vom Plattenlabel ACT Music organisiert hat.

Das scheint ja einen nachhaltigen Eindruck bei Ihnen hinterlassen zu haben. Was mögen Sie an Anke Helfrichs Klavierspiel?

Carrington: Anke verkörpert die Tradition, zugleich sucht sie aber nach neuen Sachen außerhalb der Tradition. Diese Einstellung hat mir immer gefallen. Sie ermöglicht eine gemeinsame Klangsprache zwischen uns beiden, und so können wir mit gegenseitigem Verständnis und einem gemeinsamen Fundament im Duo spielen. Sie ist experimentierfreudig, was die Sache interessant macht, ohne den Bezug zum Blues zu verlieren. Und das leuchtet auf in ihren Kompositionen ebenso wie in ihrem Spiel.

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