Heidelberg. Einem Wunderknaben wird der rote Teppich ausgerollt: Die immer noch recht renommierte Plattenfirma mit dem gelben Etikett hat ihm in Krisenzeiten einen Exklusivvertrag gegeben, zudem ist er bei der Deutschen Kammerphilharmonie mit einem Amt betraut worden, das es in Bremen vorher nie gegeben hat: Principal Guest Conductor. Tarmo Peltokoski heißt besagter Dirigenten-Wunderknabe, er ist bis zum 21. April noch 24, und in Heidelberg sieht er auch keine Woche älter aus. Seine Statur ist schmal und zierlich, sein Gesicht so blass, als habe er sein ganzes junges Leben in Musikbibliotheken zugebracht und daher nie das Tageslicht gesehen.
Peltokoski interpretiert Sibelius mit klarer Präzision
Aber Peltokoskis Gestik wirkt entschlossen und präzise. Klare Vorstellungen hat er auch, von seinem großen Landsmann Jean Sibelius hat er mal gesagt, den dürfe man nicht mit der Bruckner-Elle messen. Also nicht mit Pathos überfrachten (wie das seiner dezidierten Meinung nach einst etwa Leonard Bernstein tat). Beim Heidelberger Gastspiel in der vollbesetzten Neuen Universitäts-Aula gibt Peltokoski mit den Bremer Kammerphilharmonikern auch keine der Sibelius-Sinfonien, sondern die Musik zu „Pelléas et Mélisande“ - die zur Begleitung einer Schauspielproduktion entstanden ist. Die Tonsprache zeigt in der Heidelberger Aufführung zwar durchaus noch die Herkunft aus der Spätromantik; aber waberndes Vibrato duldet Peltokoski nicht. Das von Sibelius oft benutzte Englischhorn nordet im zweiten Satz den Klang betörend dunkel ein.
Holzbläser und Pauke entfesseln musikalische Präzision
Aber die Holzbläser können auch anders, wie sie anschließend bei Schostakowitsch demonstrieren, im Es-Dur-Konzert für Cello und Orchester. Messerscharf, mit schneidend klarem Timbre, schwirren sie der ohnehin schon stark geforderten Solistin um die Ohren. Auch die Pauke neigt zu durchschlagenden Resultaten. Der Orchesterpart wird ungemein pointiert entfesselt, Tarmo Peltokoski hat das Zeug zum großen Schostakowitsch-Dirigenten. Der Solistin gegenüber wirkt das fast ein bisschen mitleidslos, der Youngster scheint wenig Fürsorgepflicht zu spüren. Anastasia Kobekina spielt überdies im ersten Satz nicht immer lupenrein und hat Probleme mit der Spurtreue in den Stakkato-Strecken.
Musikalische Geschichten und orchestrale Meisterwerke entfaltet
Doch das bessert sich im Lauf der Aufführung, in der Kadenz hat sie sich freigespielt und findet gar zu einer Art Erzählhaltung. Auch für die Zugabe, eine in Richtung 16. Jahrhundert tänzelnde „Gagliarda“, die sie in Begleitung eines Tambourins bestreitet, kann sie mit einer Geschichte aufwarten: Es sei ein Stück von ihrem Lieblingskomponisten, freilich sei sie diesbezüglich vielleicht nicht ganz objektiv – es handele sich hier um Vladimir Kobekin, ihren Vater. Eine solche Ansage hat Charme.
Während sich Tarmo Peltokoski nach der Pause mit gewohnter Unerbittlichkeit, Rasanz und Schärfe in die vierte Sinfonie von Beethoven verkrallt. Ihr wird bisweilen ein gewisser Klassizismus nachgesagt; aber vom Finnen wird sie voll auf Sturm und Drang gebürstet. Peltokoski wahrt dabei den Röntgenblick, Beethovens orchestraler Bauplan wird fast blendend transparent. Als Zugabe gibt es Sibelius‘ „Pastorale“ aus der „Pelléas et Mélisande“-Musik. Kann der brillante junge Maestro etwa auch Idyllen malen? Hört sich beinahe so an.
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