„Er ist halt auch so sympathisch“, schwärmt die Dame neben uns. Sie meint den Pianisten Igor Levit, der sich seinem Publikum beim Heidelberger Frühling jetzt noch etwas mehr öffnet. In einem neu geschaffenen Konzertformat, das Levit „stets erträumt, aber noch nie gemacht“ habe, wie er erzählt. Es heißt „Carte Blanche“ und bietet ein nach Möglichkeit spontan erdachtes, den Besucherinnen und Besuchern nicht bereits im Voraus angekündigtes Programm.
Aber das hält sie keineswegs vom Kommen ab, die Neue Universitäts-Aula ist restlos voll. Und Levit, der beteuert, bis vor einer Stunde sei er unsicher gewesen, was er spielen wolle, nutzt den künstlerischen Freiraum auch für pianistische Bekenntnisse abseits des Mainstream-Repertoires. Das kann er sich in Heidelberg längst leisten. Früher allerdings, berichtet er, habe er schwere, spröde Brocken der Klavierliteratur den Machern des Programms „reinwürgen“ müssen. Und sie höchstens mal im Alten Hallenbad zur Aufführung gebracht. Nun kann er es auch auf der Beletage der Neuen Aula tun.
Im ersten Teil des Abends spielt er kontrapunktisch vielfach Aufgedröseltes von Bach („Chromatische Fantasie und Fuge“) und Busoni – der in seiner „Fantasia contrappuntistica“ aus dem Jahr 1910 über den Zeitraum einer halben Stunde seiner Bach-Verehrung wahrhaft freien Lauf lässt.
„Dieses Stück bedeutet mir die Welt“, sagt Levit. Er entscheidet sich natürlich für die von Busoni noch einmal erweiterte Version: die „Edizione definitiva“. Levit zeichnet an präzise disponierten Schnitt- und Schlüsselstellen nach, wie dieses ungeheure Stück, das auf den Spuren von Bachs unvollendeter finaler Fuge wandelt, „immer wilder, immer freier“ werde. Bis zum „kathedralenhaften Schluss“.
Seismografisch feiner Anschlag
Levit als Pianist indessen wird erst nach der Pause völlig frei. Er spielt dann auswendig und nicht vom Blatt (beziehungsweise iPad). Wie er sich als Moderator mit dem Mikro in der Hand bewährt und dann nur fünf Sekunden später eintaucht in die Welt der Einsamkeit, die Schuberts c-Moll-Allegretto ausfüllt, soll ihm erst mal einer nachmachen. Sein Anschlag ist hier seismografisch fein. Zu guter Letzt kündigt der Pianist die letzte Beethoven-Sonate Opus 111 an, gleichfalls in c-Moll gehalten, und natürlich ist das Publikum begeistert. Levit ziert sich eine Weile, diese Vorfreude erscheint ihm fast zu groß. Soll er sein Vorhaben doch bleiben lassen? Die „Carte Blanche“ würde ihm sogar das gestatten.
Doch er kann das Stück, mit dem er vor zehn Jahren in einer weithin gefeierten CD-Aufnahme später Beethoven-Sonaten in das große Rampenlicht getreten ist, nicht mehr zurücknehmen. Auch dieses Stück bedeutet ihm die Welt. Das ist nicht nur seinen Diskant-Trillern am Schluss der Arietta anzuhören – die den irdischen Klavierklang unter sich zurücklassen.
Nach langem Jubel gibt es noch eine Busoni-Zugabe, es handelt sich um die Berceuse. Ein Wiegenlied, nachtschwarz, elegisch. Wie für eine schöne, doch unheilbar traurige Prinzessin.
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