Die Stimme war zwar noch nicht ganz wieder da - man hörte es allerdings nur beim Sprechen - doch Nina Hagen fühlte sich fit genug, ihr vor zwei Wochen wegen stimmlicher Probleme ausgefallenes Konzert beim Karlsruher Zeltival nachzuholen. Und wie gut, dass es nicht ganz ausfiel. Denn das Publikum erlebte mit Deutschlands immer noch schrillster Rocklady einen begeisternden Abend. Frau Hagen war blendend aufgelegt und spielte mit ihrem erstklassig aufspielenden Rock-Quintett neben alten Songs auch eine Reihe Lieder aus dem aktuellen Album "Personal Jesus", eine Sammlung von Gospels.
Liebe mit Grimassen
Viele, die ihr letztes Konzert im Tollhaus vor zehn Jahren miterlebt hatten, befürchteten wieder einen Chor von Gebeten und Lobpreisungen, der von Harmonium, Glöckchen und Trommeln begleitet wird. Doch ihr persönlicher Jesus schien ihr, zumindest musikalisch, diesmal Gutes eingeflüstert zu haben. Mit der Cover-Version des Depeche-Mode-Hits eröffnete sie das Konzert und tat damit auch dem Publikum gut. Dieses empfing sie stürmisch und liebte sie. Die Hagen gab diese Liebe in Form von Grimassen und guter Musik zurück. Grell und bunt gemischt war das Publikum, das sich an diesem Abend ins Tollhaus begab: Von grellorange bis in Ehren ergraut waren die Haare der Menschen von 16 bis 70, die die 55-Jährige wegen ihrer engagierten Texte und ihrer Musik lieben. Cover-Versionen gab es bei dem denkwürdigen Konzert nicht nur von Rockbands wie den "Doors" ("Riders On The Storm"), sondern auch von deutschen Dichtern. Von Goethe vertonte die Band "Das Veilchen" und von Fontane, politisch wieder hochaktuell, das Gedicht "Das Trauerspiel Von Afghanistan" von 1858. Und mit "Soldat Soldat" hatte Hagen auch ein Gedicht ihres Stiefvaters Wolf Biermann im Programm.
In einem Unplugged-Teil sang sie einige Gospels, darunter auch von Elvis Presley, durchmischt mit liebenswürdigen kleinen Predigten ("Wenn wir nicht aufpassen, tun uns die Bösen kaputtstrahlen"). Dann ging es endlich wieder rockig weiter und schließlich wünschte sie ihren Gästen und ihrem 32 Jahre alten TV-Glotzer "guten Empfang". Da ging ein Strahlen - dieses Mal im positiven Sinn - über die Gesichter, denn der Song hatte nichts von seiner mitreißenden Sogkraft verloren. Und so ging, nach etlichen Zugaben, eine Zeitreise mit einer Protagonistin, die zeitlos ist, zu Ende. "Shalom, Frieden auf Erden, Jesus lebt, ich liebe euch . . ."
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