„Zu Hause – wo?“, fragt der Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus, Hauptfigur in „Heimkehr nach Fukushima“ des Schweizer Autors Adolf Muschg, als er desorientiert auf einer Tatamimatte im Hotel „Eisvogel“ nahe dem Kernkraftwerk Fukushima I erwacht.
Die Ruhe und Idylle der Pension, eingebettet in die immer noch traumhaft malerische Landschaft der „Glücksinsel“ (so die deutsche Übersetzung des japanischen Wortes Fukushima), schneiden sich scharf mit der von Muschg so plastisch geschilderten Realität der Sperrzone: üppiges, giftiges Grün, sprudelndes, tödliches, kontaminiertes Leben. Fukushima, einstige Kornkammer Japans, ist noch fruchtbar, die Erzeugnisse aus der Sperrzone sind jedoch giftig. Der Schweizer Schriftsteller zeichnet ein eindrückliches Bild des „japanischen Kunstwerk(s) der Verzweiflung“, das – für den nie dort gewesen Leser – surreal, unbegreiflich bleibt.
In dieser unwirklichen Welt, die die Wirklichkeit 2011 so drastisch zu spüren bekam, spielt Paul Neuhaus’ persönliches Märchen. Er findet seine Heimat dort, wo so viele Menschen ihre durch die atomare Katastrophe verloren haben. Anlass für die Reise in das verstrahlte Gebiet ist eine Einladung seiner japanischen Freunde Ken-Ichi und Mitsuko Tenma sowie des Bürgermeisters Seizo, der in seinem verlassenem Dorf eine Künstlerkolonie im Stile des Monte Verità ansiedeln will.
Sinn in der Sinnlosigkeit
Frisch verlassen von seiner Frau reist der 62-jährige Schriftsteller, der schon seit Jahren nichts mehr geschrieben hat, zusammen mit Mitsuko in das Sperrgebiet – und letztendlich auch zu sich selbst. Sein ständiger Weggefährte ist das Werk Adalbert Stifters. Den ersten Ausflug in die Zone begleitet ein Auszug aus dessen Erzählung „Abdias“, in der er die „Kette von Ursache und Wirkung“, nach der nichts dem Zufall überlassen ist, „mit einer heiteren Blumenkette“ vergleicht. Dieser blumige Determinismus erscheint zynisch im Angesicht der Zerstörung.
Trotz allem ist die Sinnlosigkeit der Katastrophe sinnstiftend. Der Schriftsteller Neuhaus, der in seinem einzigen Roman predigt, den Augenblick zu leben, schluckt seine Botschaft vielleicht selbst erst, als er sich mit der Vergänglichkeit konfrontiert sieht. In der künstlichen Welt blauer Schutzkleidung und tickender Geigerzähler verlieben sich er und Mitsuko. Mit heftigem Koitus „impft“ ihn die Japanerin gegen die zerstörerische Strahlung und heilt ihn von seinem Mutterkomplex.
Paul Neuhaus, der zwar menschlich, aber doch nie wirklich sympathisch wirkt, wird in japanischen Quellen reingewaschen. Auch der Leser kann sich dem Schwall der Besinnung nicht entziehen. Muschgs Roman macht die atomare Katastrophe und das Leben danach auf eine Weise fühlbar, die Medienberichten versagt bleibt: „Die Siedlungen waren leer. Darauf war Paul gefasst gewesen, aber nicht auf das damit verbundene Gefühl. Die Leere war erschreckend“. Der 84-jährige Autor schildert die Auswirkungen des Störfalls packend, ohne dabei zu moralisieren oder Atomkraft grundsätzlich zu verteufeln.
Der Schweizer Schriftsteller, der selbst mit einer Japanerin verheiratet ist, fängt die japanische Mentalität ein und macht sie begreiflich. „Wir Japaner wollen es doppelt so schwer haben wie die andern. Das gibt uns Gelegenheit, es dreimal so gut zu machen“, erklärt Ken-Ichi Paul und dem Leser. Die Abkehr von der Atomenergie sei Verrat an den Opfern, die sie gefordert habe.
Der Roman ist sprachlich schwere Kost. Neben zahlreichen Zitaten unter anderem biblischer Herkunft erschwert die eher karge, zuweilen fast unnatürlich wirkende Sprache der eingestreuten Stifter-Passagen die Lektüre. Das passt indes zu dem komplexen Thema, dem ein seichter Erzählstil nicht gerecht würde.
Schriftsteller mit vielfältigem Werk
Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg wurde 1934 in Zürich geboren. 1959 promovierte er an der Universität Zürich mit einer Dissertation über Ernst Barlachs Dichtungen.
Der 84-Jährige unterrichtete an zahlreichen Hochschulen, unter anderem an der International Christian University Tokyo. Er war auch Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich und Präsident der Akademie der Künste in Berlin.
Muschg erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter der Hermann-Hesse-Preis, der Georg-Büchner-Preis und der Grand Prix de Littérature der Schweiz.
Sein umfangreiches Werk umfasst Erzählungen wie „Der weiße Freitag“, Romane wie „Kinderhochzeit“, Essays, Hör- und Fernsehspiele sowie Dramen.
Sein neuer Roman: „Heimkehr nach Fukushima“. Verlag C. H. Beck, München. 245 Seiten, 22 Euro.
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