Während alles ans Licht, an die frische Luft und ins Freie drängt, mehren sich die Anzeichen für eine kulturell-gesellschaftliche Diskursverengung. Nicht nur die aggressiven Proteste durch Corona-Leugner und Impfverweigerer rütteln an den Säulen der demokratischen Ordnung; auch das Bedürfnis, Regeln für moralisch intaktes und ethisch verantwortliches Denken und Handeln zu schärfen, entfaltet destruktive Wirkungen.
Die berechtigte Forderung nach einer Sensibilisierung im Bereich der Sprache verfehlt nicht erst dann ihr Ziel, wenn das Bemühen um Sprachgerechtigkeit ideologisch instrumentalisiert wird. Sondern etwa auch dann, wenn Formen des Meinens und Sprechens mit einem moralischen Rechtfertigungsdruck belegt werden, wie das mittlerweile selbst im Bereich der Satire geschieht. Die Ansicht, ein Sketch, der mit den Stereotypen des Antisemitismus spielt, um diesen zu desavouieren, bediene antisemitische Stimmungen und sei deshalb zu unterlassen, ist im Fall der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhart nicht vertretbar.
Ähnliche Schlüsse wird man auch nach der Lektüre des Buches „Sprache und Sein“ von Kübra Gümüsay ziehen müssen, in dem das Ideal eines gesteigerten Sprachbewusstseins an eine kaum wahrnehmbare Verbotslinie stößt, mit der die Autorin dem Denken und der Meinungsäußerung eine subtile Grenze setzt. Etwa dort, wo hinter einer gewissen Haltung rassistische Vorurteile vermutet werden, die antiliberale Strömungen in der Gesellschaft zu befeuern drohten.
Etikett des Populismus
Nun muss man sich über die mangelnde politische Dignität rassistischer Einstellungen nicht streiten. Ebenso wenig über das Stammtischniveau einschlägiger Debatten. Allerdings erfordert der Gebrauch des Adjektivs „rassistisch“, zumal in seiner inflationären Verwendung, durchaus eine Legitimierung, ohne die „Rassismus“ bloß ein Schimpfwort ist, mit dem man sich eine womöglich unbequeme Diskussion vom Leib hält und sich nebenbei als progressiv präsentieren kann, indem man den „weißen Mann“ alt aussehen lässt.
Leider erstickt der latente „Rassismus“-Vorwurf ebenso teilweise notwendige Debatten wie das Etikett des Populismus, das sich selbst Autorinnen wie Ayan Hirsi Ali anheften lassen müssen, die auf bedenkliche Folgen der Einwanderung von Menschen aus muslimischen Kulturkreisen für Frauen aufmerksam macht und eine Verschärfung des Asylrechts fordert. Dabei war die somalische Frauenrechtlerin selbst Opfer einer radikal-islamischen Erziehung. Sie sieht sich nun, nachdem sie die Freiheit erlangt hat, abermals gefangen gesetzt.
Ähnlich ergeht es liberalen Muslimen wie Hamed Abdel-Samad, Seyran Ates, Ahmad Mansour oder Mouhanad Khorchide. Man lehnt deren Warnungen vor legalistischen Formen des Islam ab – sie seien zugespitzt und provozierend. Der wahre Grund ist: Sie passen nicht ins liberale Weltbild. Aus vergleichbarem Anlass wird selbst an den Hochschulen „Cancel culture“ (also das Zensieren und Verbieten missliebiger Meinungen) betrieben, wie eine zunehmend hysterische Diskursverweigerung unter Studenten zeigt. Die für jede Wissenschaft verheerende Folge: Thesen werden zu Urteilen, die Antithese wird suspendiert.
Auch um den Kulturbetrieb ziehen sich die Schlingen einer vermeintlich politischen Korrektheit. Soeben wurde die Auslieferung einer Biografie über den amerikanischen Schriftsteller Philip Roth vom Verlag gestoppt, nachdem Vergewaltigungs- und Missbrauchsvorwürfe gegen den Verfasser – Blake Bailey – bekannt wurden. Vorwürfe, die juristisch zu prüfen und rechtsstaatlich zu ahnden sind, aus denen sich aber mitnichten ein Veröffentlichungs- und damit Leseverbot ableiten lässt.
Ist es dem interessierten Leser etwa nicht zuzutrauen, selbst zu entscheiden, ob er das Buch eines solchen Autors lesen möchte? Wie viele Bücher müssten vom Markt verschwinden, deren Macher kein moralisch intaktes Leben führen oder geführt haben? Wer definiert denn, was „intakt“ ist? Ist das in einer demokratischen Gesellschaft nicht auch eine Frage, die ausgehandelt werden und sich als konsensfähig erweisen, damit aber im Zweifelsfall offen bleiben muss?
Der Realität enthoben
Und müssen wir uns künftig wirklich als „Rassisten“ fühlen, wenn wir ein Konzert besuchen, in dem „nur“ Mozart, Beethoven und Schubert gespielt werden – nicht aber das Werk des Angehörigen eines von einer Kolonialmacht unterdrückten Landes? Längst sind solche Debatten im Gang.
Sie korrespondieren mit identitären Gruppenbildungen auch im politisch linken Spektrum, die in abstrakten Höhen über sozialen Realitäten schweben, wie Linken-Ikone und -Kritikerin in einer Person, Sarah Wagenknecht, über die so genannte Lifestyle-Linke schreibt.
Heer von Sittenwächtern
Die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung verträgt keine Grenze, solange sie sich im verfassungsgemäßen Rahmen bewegt. Das Heer der Sittenwächter und Sprachpolizistinnen hat unterdessen bedrohliche Ausmaße angenommen.
Hinter der Fassade der Aufgeklärtheit wuchert Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Die Dialektik der Aufklärung zeigt sich am Missbrauch ihrer Prinzipien, die gelegentlich dazu herhalten müssen, die jeweils eigene Überzeugung für allgemeingültig zu erklären. Damit droht der gesellschaftliche Konsens im Pluralismus der „Singularitäten“ zu zerbrechen. Die Aufklärung frisst ihre Kinder.
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