Das Interview - Wie fühlt man sich als Abi-Stoff? Der 69 Jahre alte Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel kommt ins Nationaltheater

Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel kommt ins Nationaltheater

Von 
Hgf
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Autor Hans-Ulrich Treichel. © Heike Steiweg

„Der Verlorene“ ist nicht verloren. Er verfolgt Hans-Ulrich Treichel, seinen Autor, vielmehr nach wie vor. Eine Vertriebenen-Geschichte neuen Typs erschien da 1998. Eine „autobiografische Fiktion“, mit Eltern, die wie Treichels Eltern in den Kriegswirren ein Kind verloren hatten und nicht wiederfinden konnten. Der Roman, den man auch eine längere Erzählung nennen kann, wurde in 26 Sprachen übersetzt. Nun müssen sich Schüler und Schülerinnen sogar für ihr Abitur mit dem „Verlorenen“ beschäftigen. Im Nationaltheater Mannheim können sie Hans-Ulrich Treichel schon einmal dazu befragen. Ein paar Tage vorher hat er ein Gespräch mit uns geführt.

Herr Treichel, wenn ich gleich zu Anfang derart flapsig werden darf: Wie fühlt man sich als Abi-Stoff?

Hans-Ulrich Treichel: Das ist eine Anerkennung, über die man sich natürlich freut. Der Wunsch, den man dann auch hat, lautet: dass die Schüler diesen Stoff nicht nur als Pflichtlektüre nehmen mögen. Dass vielmehr ein echtes Lese-Interesse wach wird.

„Der Verlorene“ hat Sie persönlich niemals losgelassen. Es gibt meiner Kenntnis nach drei Fortführungen der Roman-Thematik, die Sie später noch geschrieben haben. Oder sogar mehr?

Treichel: Nein, es sind drei. Als letzte die Erzählung „Tagesanbruch“ aus dem Jahr 2016. Das ist freilich keine Fortsetzung im engen Sinne, sondern eine eigenständige Beschäftigung mit der Erfahrung von Flucht und Vertreibung. Diesmal aus der Perspektive einer Frau.

Der Autor und die NTM-Lesung

  • Hans-Ulrich Treichel, Jahrgang 1952, kam in Versmold in Westfalen auf die Welt, doch seine Eltern galten als Vertriebene und kamen aus den „Ostgebieten“. Er studierte später in Berlin und promovierte über Wolfgang Koeppen, einen Autor, der für ihn zum Lebensthema wurde: Treichel kümmert sich bis heute um die neue Koeppen-Werkausgabe.
  • Doch er selbst begann als Lyriker. Die Hinwendung zur Prosa setzte 1988 ein, bei einem Studienaufenthalt in der berühmten Villa Massimo in Rom: weil den Romanautoren dort (zu denen Bodo Kirchhoff zählte) ihre Schreibarbeit erkennbar leichter von der Hand ging.
  • Dennoch geht es in den Büchern Treichels häufig um Traumatisches, und der vom eigenen Familienschicksal her entwickelte „Verlorene“ fand noch drei Fortführungen oder Varianten. Außerdem war Treichel mehrmals Opern-Librettist, auch für Hans Werner Henze. Doch vor allem war er Lehrer am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
  • Mannheimer Lesung im Rahmen der Nationaltheater-Reihe „Schule der praktischen Weisheit“: Dienstag, 18. Januar, 19 Uhr, im Schauspielhaus (Karten: 0621/16 80 150). 

Aber in der „Verlorenen“-Thematik existieren eine Menge biografischer und autobiografischer Bezüge, oder?

Treichel: Ja, aber erst nach dem Schreiben des Romans bin ich auf die Idee gekommen, dass ich meinen Bruder vielleicht doch noch finden könnte. Den vermissten Bruder gab es wirklich, aber früher hieß es immer, dass er auf der Flucht am Kriegsende verhungert sei. Jahrzehnte später habe ich erfahren: Meine Eltern haben meinen Bruder immer intensiv gesucht, über das Rote Kreuz. Erst, als ich dazu alte Unterlagen fand, habe ich den „Verlorenen“ geschrieben. Später auch beim Roten Kreuz gefragt, ob man den Suchauftrag erneuern könne. Und die Überraschung war: Der Auftrag lief noch.

Aber war auch wirklich etwas unternommen worden?

Treichel: Nein, es gab ja keine neuen Daten. Doch sie schickten mir den Briefwechsel mit meinen Eltern – und den Namen jenes Findelkindes, das die Eltern einst für den „Verlorenen“ gehalten hatten, aber nie leibhaftig sehen durften, weil erst die Verwandtschaft zu beweisen war. Ich habe mich mit ihm getroffen, 50 Jahre später. Und auch einen – negativen – Gentest haben wir gemacht. Danach habe ich „Menschenflug“ geschrieben. Es ist immer so ein Wechselspiel zwischen Erfahrung und Erfindung.

Ist der Stoff mit insgesamt vier Büchern mittlerweile literarisch abgeschlossen?

Treichel: Ja, das ist er höchstwahrscheinlich. Ich beschäftige mich zwar noch immer ständig mit dem Stoff, aber eine Geschichte, die ich dazu noch erzählen könnte, habe ich nicht mehr im Kopf.

Es irritiert Sie nicht, dass „Der Verlorene“ schon jetzt zum Kanon „klassischer“ Romane zählt? Es soll Autoren geben, die so etwas fürchten.

Treichel: Dass es die tatsächlich gibt, glaube ich nicht. Das Wörtchen „Kanon“ klingt vielleicht ein bisschen anmaßend, aber natürlich will ein Autor, dass das Leserinteresse länger anhält als nur ein, zwei Jahre. Steuern kann man das natürlich nie.

Dass der Roman zum Abitur-Stoff wurde, liegt wohl auch an seiner Anschlussfähigkeit zu all den aktuellen Flüchtlingskrisen?

Treichel: Ja, denn Migrationserfahrung ist ein Weltthema geworden. Deutschland ist in letzter Zeit auch stark davon berührt. Die Eltern junger Menschen, manchmal auch sie selbst, wissen von Fluchterfahrungen und haben oft Traumatisierungen erlitten. Doch es gibt im Buch auch die Thematik der Familie, und auch diese ist universell. In der Familie kann man sehr allein sein, außerdem geht es in dem Roman um die Geschwisterkonkurrenz: Der anwesende Bruder ist auf den „Verlorenen“ fast neidisch, weil der mehr Beachtung zu bekommen scheint.

Sie haben ja als Lyriker begonnen, sind als Prosaschriftsteller ein Spätberufener. Ist das vielleicht sogar ein Vorteil?

Treichel: Schon, aber ich habe überhaupt spät mit dem Schreiben angefangen – erst am Ende meines Studiums, nach dem Staatsexamen. Als Student der Germanistik ist man stark beeindruckt von den vielen großen Büchern, die schon existieren. So naiv kann niemand sein, zu glauben, dass in der gewaltigen Berliner Universitätsbibliothek nur noch ein Buch fehlt: das von einem selbst geschriebene. Doch irgendwann steigt trotzdem ein Impuls in einem auf. Bei mir ist das recht spät gewesen, ich war immer gerne Germanist und habe gerne Sekundärliteratur gelesen. Oder eine Hausarbeit verfasst.

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