Mannheim. Es mutet mathematisch an: Die Grundstruktur ist 169 exakt dieselbe Figur für die kleine Trommel. Darüber liegen 16 Takte im ¾-Rhythmus, die in zwei Melodiebögen insgesamt 18-mal wiederholt werden. Der hörbare Unterschied ist die zunehmende Instrumentierung von zunächst nur Trommel und Flöte bis zur großen Orchesterbesetzung. Dieses Crescendo, dieses Anwachsen von Klang über rund 17 Minuten macht Maurice Ravels „Boléro“ aus.
Dreimal „Boléro“: Ein musikalisches Erlebnis der Extraklasse
Kaum jemand kann sich dem Reiz des 1923 von der Tänzerin Ida Rubinstein uraufgeführten Stückes entziehen. Am Mannheimer Nationaltheater kommt man in „Boléro, Boléro“ innerhalb von knapp zweieinhalb Stunden sogar dreimal mit der sich bis zur Ekstase steigernden Musik in Berührung. Es sind aber beileibe keine Wiederholungen.
Im Gegenteil. In „Sheepshead Bay“ von Rebecca Laufer & Mats van Rossum wird der „Boléro“ seziert, fast skelettiert. Die Herangehensweise von Anat Oz in „The One More Time“ beruht auf der Beobachtung des Menschen als Gewohnheitstier. Augenzwinkern und Humor sind die Elemente des Hausherrn und Mannheimer Tanzintendanten Stephan Thoss. Um es vorwegzunehmen: Bei dem durchweg anregenden und sehenswerten Abend münden alle drei Teile in lautem, einhelligem Jubel.
Ein geheimes Wohnzimmer für ältere Damen
Bei „17 Minutes“ von Thoss ist die Bühne im Alten Kino Franklin (Thoss, Romy Liebig) ein geräumiges Wohnzimmer mit Couch, Esstisch mit Stühlen, Sesseln sowie – ganz wichtig - einem Regal mit Plattenspieler und einem Radio aus den 1950er Jahren als Verstärker. Der Raum ist der geheime Treffpunkt von sechs alten Damen, die – nachdem sie altmodische Hausschuhe anziehen mussten – außer dem Verzehr von Petits Fours nichts gemeinsam haben.
Die anfängliche Musik von Max Raabe und seinem Tanzorchester vermittelt den Eindruck eines Kaffeehauses, allerdings treten die Alten nie in Kontakt miteinander. Ihre ganz eigentümliche Art, sich spärlich zu bewegen, spiegelt auch ihren Charakter: schüchtern, mondän, klein und schnell, gemütlich, zackig, damenhaft. Doch eine Schallplatte mit Ravels „Boléro“ ändert alles.
Die alten Damen beginnen zu leben, ihre zunächst marionettenhaften Bewegungen werden immer geschmeidiger, immer jünger, bis sie in Ekstase vereint auch zueinander finden. Die Lust an der Verwandlung sieht man Arianna Di Francesco, Paloma Galiana Moscardo, Dora Stepusin, Reiko Tan, Anna Tardi, Lorenzo Angelini (als die Schüchterne) und Leonardo Cheng als stummes Faktotum an, sie überträgt sich sofort auf das vergnügte Publikum im ausverkauften Theatersaal.
„Boléro, Boléro“ am Nationaltheater
- Maurice Ravel (1875 - 1937) ist einer der bedeutendsten französischen Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts. Sein bekanntestes Werk „Boléro“ schrieb er auf Wunsch der Russin Ida Rubinstein. Ihr lasziver Tanz inmitten eines Kreises von zwanzig Männern war bei der Uraufführung 1928 ein Skandal.
- Im Dreiteiler „Boléro, Boléro“ des NTM haben Anat Oz mit „The One More Time“, Stephan Thoss mit „17 Minutes“ sowie das Duo Rebecca Laufer & Mats van Rossum mit „Sheepshead Bay“ eigene Interpretationen kreiert.
- Weitere Aufführungen im Alten Kino Franklin: 26. Oktober (18 Uhr), 30. Okt., 8., 13. November (19.30 Uhr), 23. November (18 Uhr).
Nur mit den Männern des Ensembles hat Anat Oz ihr „The One More Time“ besetzt. Die Israelin, die beim NTM Ende 2021 für den Tanzabend „Rising“ choreografierte, zwingt Ferdinando Panach, Joseph Caldo, Cheng, Shaun Ferren, Albert Galindo, Nicola Prato, Noa Siluvangi und Luis Torres raus aus der täglichen, sich immer wiederholenden Routine.
Als Anzugträger sind sie in einem engen, roten Raum in kleinen und kleinsten Bewegungen nahezu erstarrt. Doch je mehr sie ihre männliche Attitüde und damit ihre Selbstkontrolle verlieren, desto mehr entblößen sie sich, werfen ihre Jacken und Hosen weg, bis sie - nur noch in Unterwäsche - in Ekstase verfallen. Wie Thoss lässt sich auch Oz voll und ganz von Ravels Musik inspirieren.
Ein fesselndes Stück in Brooklyns düsterer Bar
Nur noch in Bruchstücken ist sie hingegen in „Sheepshead Bay“ von Rebecca Laufer & Mats van Rossum erkennbar. Die US-Amerikanerin mit polnisch-jüdisch-sizilianischem Hintergrund und der Niederländer haben in der NTM-Spielzeit 2024 mit „Clay“ im Tanzabend „Just a Game“ begeistert. Auch diesmal bieten sie mit dem gesamten Ensemble ein fesselndes Stück, das in einer Bar in Brooklyn spielt. Dort, wo in den 1960er bis 1980er Jahren die Mafiabosse regierten und Bandenkriege an der Tagesordnung waren.
Auch wenn die Originalmusik Ravels immer mal wieder, aber nur rudimentär erklingt, so bleibt dennoch ihre Struktur erhalten. In der düsteren Atmosphäre einer Kellerbar personalisiert das Choreografen-Duo sozusagen die Instrumente. Anfangs zerlegt nur ein einziger betrunken taumelnder Gast die Bar, dann kommen ein Mitarbeiter mit Besen und eine ebenfalls nicht mehr nüchterne Frau hinzu.
Ein absoluter Hingucker ist hier der Pas de Trois mit Mann, Frau und Besen. Auf dumpfe, von Klirren, Hupen, Rattern begleitete Klänge (Thomas Walschot, van Rossum) füllt sich nach und nach die Bar, die Stimmung schwankt, die rauchgeschwängerte Feierlaune (zu Jazzmusik von Oscar Pettiford) kippt immer wieder in Aggressivität, ja sogar Brutalität um. Das Ganze endet in einer stummen Massenschlägerei. Der begeisterte Schlussapplaus wird dann wieder vom Original-„Boléro“ untermalt.
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