Die Utopie lebt von der Sehnsucht nach einer anderen Welt. Wir vergessen manchmal, dass Welt nicht nur das ist, was ist, wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein meinte, sondern auch das, was sein könnte. Das, was wir in unserer Gegenwart erleben, ist nie nur Wirklichkeit, immer auch Möglichkeit, nie nur Gegenwart, immer auch Zukunft. Immer wieder wurden Utopien entworfen, die einen Zustand vorstellten, der besser oder anders ist als der bestehende. Denken wir an „Utopia“ von Thomas More. Seine Vorstellungen einer besseren Welt waren 1516 inspiriert durch das Zeitalter der Entdeckungen neuer Länder, sie waren aber auch eine Sozialkritik der englischen Gesellschaft dieser Zeit.
Es ging um das ideale Staatswesen, aber auch um Vernunft, Toleranz und Menschlichkeit. Thomas More entwickelte Vorstellungen von entscheidenden Werten der Neuzeit und der Moderne. Utopien haben also Wirkung. Sie sind ein Idealbild und geben Impulse. Sie inspirieren Menschen, darüber nachzudenken, was zu tun ist, um dieses Idealbild zu erreichen.
Die Frage, wie Zukunft aussehen soll, wie die Gegenwart die Basis dafür bilden kann, etwas langfristig zum Besseren zu wenden, hat in unserem Zeitalter der Unsicherheiten keine Konjunktur. Dabei wären Utopien, die ein Bild davon entwerfen, wie wir die neu entstehenden Möglichkeiten im Zeitalter der Digitalisierung nutzen beziehungsweise gestalten können, dringend geboten. Statt einer Debatte gibt es zwei Hauptstränge des Denkens: Euphorie oder Panik. Der Eintritt ins „Posthumane“ Zeitalter macht Angst oder begeistert. Wenn es darum geht, eine Utopie für das Jahr 2045 zu entwerfen, ist das gar nicht so einfach. Warum? Thomas More hatte bei seinem Utopia den Menschen vor Augen. Wenn wir aber heute eine Utopie für die Zukunft entwickeln, ist es nicht mehr so klar, für wen oder was sie entwickelt wird. Es gibt Futuristen, die in der von Menschen geschaffenen Maschinenintelligenz eine neue Spezies sehen, die dem Menschen weit überlegen ist.
Festival als Ideenplattform
Vollkommen verrückt? Dachte ich bis vor einigen Monaten jedenfalls. Bis ich mich für das multimediale Musiktheater-Projekt „Castor&&Pollux“, das 2019 das umfangreichste Unterfangen seit Bestehen des Heidelberger Frühlings 1997 sein wird, mit Singularität, Transhumanismus, Unsterblichkeit und vielem mehr auseinandersetzte. Es ist von Teilnehmern unseres „LABs“ entwickelt worden, einem Zusammenschluss aus jungen, exzellenten Kulturschaffenden, die bei uns den Freiraum erhalten, debattieren, streiten und Ideen entwickeln zu können. Und wir dürfen von ihnen lernen.
Durch diese Denkfabrik können Projekte entstehen, die dem Zeitgeist der Kulturbranche voraus sind. Damit wollen wir unsere Aufgabe einlösen, Festivals als Plattform für Ideen zu gestalten, die einen kritischen Blick auf die bestehenden Umstände werfen und zugleich einladen, sich Gedanken zu machen, wie wir es besser machen können.
Die Projektidee zu „Castor&&Pollux“ setzte mir wiederum die Aufgabe, mich damit auseinanderzusetzen, was die Computerrevolution mit sich bringt, also all dem, was unsere Welt in den nächsten Jahren gravierend verändern wird. Da gingen die Augen mir über … Die meisten von uns, die über Zukunft nachdenken begehen einen Fehler: Wir denken Zukunft als Erweiterungspaket der Gegenwart. Aber so läuft es nicht. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, in welchem Tempo sich unsere Welt verändert. Der Fortschritt entwickelt sich exponentiell.
Kunst eröffnet Raum für Visionen
Wenn wir die Informationstechnologie betrachten, wird das sehr schnell deutlich. Wie lange hat es gedauert, bis die Großrechner vom PC abgelöst wurden? Das war eine relativ lange Zeit. Wie kurz war der Weg vom PC zum Tablet? Sehr kurz. Das Smartphone, also der tragbare Computer in der Hosentasche, ist gerade etwas mehr als zehn Jahre alt. Das Moorsche Gesetz, das Gordon Moore – Mitgründer der Firma Intel – 1965 erdachte, besagt, dass sich die Rechnerleistung alle 12 bis 24 Monate verdoppelt. Und jetzt noch einmal: Schauen wir uns die Entwicklung der letzten zehn Jahre an und stellen uns dann eine exponentielle Weiterentwicklung des Fortschritts vor, die der Entwicklungschef von Google und Futurist Ray Kurzweil seit langem diagnostiziert. Wenn wir also die Veränderungen der letzten Jahre nehmen und uns eine exponentielle Entwicklung bis 2045 vorstellen, wird deutlich, dass selbstfahrende Autos als Veränderung Kleinkram sind. Die Welt 2045 wird mit der Welt von 2018 wenig zu tun haben. Wir wissen überhaupt nicht, wie sie aussehen wird. Für wen oder was unter welchen Bedingungen also eine Utopie entwickeln?
Dennoch, eines ist sicher: Die Künste haben auf dem Weg dorthin eine bedeutende Aufgabe. Denn „Kunst ist der Statthalter der Utopie“, so der Schriftsteller Max Frisch. Damit ist die Möglichkeit der Kunst gemeint, neue Welten zu eröffnen, gesellschaftliche Freiräume für Utopien zu nutzen.
Wir befinden uns heute in einem Transformationszeitalter. Das Alte ist noch da und das Neue ist noch nicht ganz da. Und diese Transformation muss gestaltet werden, um 2045 eine lebenswertere Welt zu haben als heute. Hier liegt meine Utopie. Meine Utopie ist, dass die Künste 2045 die zentrale Rolle im Aushandeln gesellschaftlicher Rahmenbedingungen einnehmen. Weil wir über die kreative Kraft der Künste die Chance haben, die Toleranz und Weitsicht zu entwickeln, die notwendig ist, um eine Gesellschaft zu gestalten, in der der Mensch und die Maschine in einem vernünftigen Gleichgewicht nebeneinanderstehen. Der Mensch als Gestalter und nicht als Getriebener des Prozesses, der unsere Welt verändern wird. Ray Kurzweil als Priester der Maschinenintelligenz fragt: „Was bleibt vom Menschen?“ Die Utopie liegt darin, dass wir erkennen, handeln zu müssen, uns positiv mit den entstehenden Möglichkeiten zu befassen. Zu erkennen, dass wir uns im Falle des Nichthandelns zurück in die eigene Unmündigkeit führen. Wir spielen mit unserer Freiheit und gefährden sie und laufen damit sehenden Auges in Richtung des „Posthumanen Zeitalters“. Das muss nicht sein.
Langjähriger Chef mit Visionen
- Zur Person: Thorsten Schmidt (Bild) leitete das Internationale Musikfestival Heidelberger Frühling in diesem Jahr zum 22. Mal. Der Intendant und Geschäftsführer machte das 1997 ins Leben gerufene Musikereignis zu einem renommierten internationalen Festival. Der Oldenburger arbeitete als Geschäftsführer des Vokalensembles Frankfurt und als Orchestergeschäftsführer in Heidelberg.
- Zur Serie: Wie wird die Kulturlandschaft in 20, 30 oder 50 Jahren aussehen? Wie werden die traditionellen Kulturbetriebe arbeiten und wie mit der freien Szene kooperieren? Wird es dann noch klassische Museen und Theater geben? Oder ist alles digitalisiert? In der Serie Kulturutopie blicken Kulturschaffende der Region für diese Zeitung mit Gastbeiträgen in die Zukunft.
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