Produktive Zwischenzeiten

Mit Chiaki Soma leitet erstmals eine nicht-europäische Kuratorin das Festival „Theater der Welt“. Ende Juni findet es in Offenbach und Frankfurt am Main statt. Zeit für ein Gespräch über die Herausforderungen der Gegenwart und die Art und Weise, wie Künst

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Programmdirektorin Chiaki Soma beim Pressegespräch in Frankfurt. © Katrin Schander

Frau Soma, Vor „Theater der Welt“ haben Sie bereits in Japan sehr renommierte Festivals geleitet. Können Sie mir etwas darüber erzählen?

Chiaki Soma: Ich mache seit zwanzig Jahren Festivals. Ich habe in Frankreich Kulturmanagement studiert, ging danach zurück nach Japan und begann, beim Tokyo International Arts Festival zu arbeiten. Mein Chef hat mich sehr gefördert, ich konnte viele internationale Festivals besuchen. So begann ich, zu kuratieren. Dann wurde ich zur Programmdirektorin von Festival/Tokyo ausgewählt, eines der größten Performing Arts Festivals Japans. Zu diesem Zeitpunkt war ich Anfang 30, es war eine große Verantwortung, ich hatte nicht viel Erfahrung. Es war sehr ungewöhnlich, dass eine junge Frau in einer patriarchalen Gesellschaft wie Japan ein solche Position erhält.

Welche Schwerpunkte haben Sie dort gesetzt?

Soma: Festival/ Tokyo wird veranstaltet von der Stadt Tokyo. Ich habe mich gefragt, was es bedeutet, heute Festivals zu machen. Was ist das Festliche in unserer heutigen Gesellschaft? Denn wissen Sie, in Tokyo ist jeder Tag ein Festival. Was heißt es in diesem Zusammenhang, ein Performing Arts Festival zu kuratieren? Was sollte Kunst in dieser Stadt erreichen? Ich habe mich dafür entschieden, nicht einfach ein Fest zum Festival hinzuzufügen, sondern etwas Ungewöhnliches im Alltäglichen zu finden. Zum Beispiel an Orte zu führen, die man für gewöhnlich nicht besucht, Begegnungen mit Menschen herzustellen, die in unserer Gesellschaft sonst unsichtbar sind. Oder auf die vielen historischen Schichten in unserer Stadt zurückzuschauen, über die man im täglichen Leben nicht nachdenkt.

Bei der Pressekonferenz sagten Sie, dass Sie das Festival gern umbenannt hätten in „Theater der Welten“. Warum?

Soma: Am Anfang unseres Konzeptvorschlags fragten meine Mitarbeiterin Dr. Kyoko Iwaki und ich uns, was ‚die Welt’ heute bedeutet. Welt, geschrieben in chinesischen Schriftzeichen, war ursprünglich die Übersetzung eines buddhistischen Begriffs aus dem Sanskrit. Er bezeichnet eine Weltanschauung, die sowohl zeitlich als auch räumlich weiter gefasst ist als die heutige ‚Welt’.

Erst in der frühen Neuzeit, als die westliche Kultur zusammen mit dem Christentum nach Japan kam, wurde der Begriff in demselben Sinne verwendet wie im Westen. Hier gibt es also eine Parallele zur Geschichte der Kolonisierung vom Zeitalter der Entdeckung bis zum Zeitalter des Imperialismus. Angesichts dieser Geschichten gibt es nicht nur ein Konzept von ‘Welt’, sondern sehr vielfältige. Ich habe vor, den Begriff der Welt zu pluralisieren und verschiedene Perspektiven und Visionen aus unterschiedlichen Kontexten, Geschichten und Regionen einzubringen.

Welche Art von Stücken haben Sie gesucht, was wollten Sie einladen für das Festival?

Soma: Ich persönlich versuche immer, Kunstwerke zu produzieren, die auf die Gesellschaft und die Zeit, in der wir leben, reagieren können. Und ich möchte mit Künstlern zusammenarbeiten, die diesen Ansatz teilen. Beim Kuratieren ist es mir wichtig, neue Werke mit Künstlern zu schaffen, die sich mit dem auseinandersetzen, was sie bewegt und was sie kritisieren. Das „Theater der Welten“ bringt diese verschiedenen Perspektiven und Stimmen zusammen. Und natürlich gibt es ein zentrales Konzept, den Inkubationismus, aber das heißt nicht, dass alle Produktionen in dieses Konzept passen müssen. Die Arbeiten und Visionen der eingeladenen Künstler sind herausfordernd. Carolina Bianchi zum Beispiel spricht in ihrer Performance „Candela Forca. Ch. 1: The Bride and Goodnight Cinderella“ über Femizide, während sie selbst eine Vergewaltigungsdrogen namens „Goodnight Cinderella“ einnimmt und schließlich auf der Bühne das Bewusstsein verliert. Sie zeigt diese Gewalt und ihren verletzlichen Körper. Es ist wirklich mutig.

Sie haben es schon angesprochen, Ihr Rahmenkonzept des Festivals ist der „Inkubationsmus“. Was hat es damit auf sich?

Soma: Das Wort ‚Inkubation’ hat eine doppelte Bedeutung. Es bedeutet einerseits ‚Brüten’, dass etwas geboren wird oder schlüpft, ‚Inkubationszeit’ bedeutet aber auch Wartezeit. Ich fand das Wort sehr treffend für den Zustand während der Pandemie, als wir zuhause waren und warteten, ohne zu wissen, wann es vorbeisein wird. Diese Wartezeit war hart, hatte aber auch positive Seiten, man konnte sich auf etwas Kommendes vorbereiten. Diese Ambivalenz des aufgeschobenen Moments interessiert mich. Wie können wir ihm Bedeutung verleihen, ihn neu bewerten, anstelle ihn einfach zu vergessen? Zurzeit machen alle weiter, als sei nichts geschehen, kaum jemand spricht mehr über die COVID-19-Pandemie und über die letzten drei Jahre. Wie können wir diese Zeit neu bewerten, statt vor ihr zu fliehen, und auch die produktiven Aspekte des Aufschubs und der Zwischenzeit sehen? Sie als etwas verstehen, das Kreativität ermöglicht? Diesen Seinszustand habe ich ‚Inkubationismus’ genannt. Viele Produktionen beziehen sich auf dieses Konzept, besonders aber der von mir kuratierte „Incubation Pod“. Wir verwenden das ganze Gebäude des Museums Angewandte Kunst und bringen einige emblematische Arbeiten dorthin, die unterschiedliche Zugänge zum Inkubationsmus zeigen und physische Erfahrungen ermöglichen, die die Besucher in einen Zustand der Inkubation versetzen. Sie sind taktil, meditativ, träumerisch… Das Publikum kann hier sogar übernachten, schlafen, träumen und feiern.

Was kann Kunst erreichen, wenn beispielsweise ein Land wie Deutschland versucht, die Pandemie zu vergessen und zum Tagesgeschäft überzugehen?

Soma: Wir können aus unserer Erfahrung lernen. Während der Pandemie haben wir alle gelernt, dass unsere Existenz verletzlich ist, dass wir krank werden können. Vieles hat sich während der Pandemie geändert, und es ist wichtig, diese Veränderung zu befragen, sichtbar zu machen, was unsichtbar war, und es nicht zu vergessen.

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