Im Video zu "Bitter Sweet Symphony", dem bedeutendsten Song seiner Band The Verve von 1997, rempelt sich Richard Ashcroft durch eine Einkaufsstraße, im Video zum neuen Song "Are You Ready?" schattenboxt er sich durch einen verschneiten Park. Sich diesem Mann in den Weg zu stellen, kann noch immer weitreichende Folgen zeitigen. Der Brummschädel scheint noch aus einem anderen Grund unausweichlich: Ashcroft ist wieder als Prediger unterwegs und singt im rocksinfonischen Sechseinhalbminüter Sachen wie: " Ah Jesus, sweet Jesus can't you hear? / Please don't leave us all alone living here with fear."
Ob wir wirklich bereit sind für Richard Ashcrofts aktuelle Werke der Frömmigkeit, darüber müssen wir noch nachdenken - neu ist dieser Ton bei ihm, dem Schlacks von "messiashafter Gestalt" (FAZ), jedenfalls nicht. Mit seiner Band The Verve spielte er vier Alben ein, darunter das späte Britpop-Manifest "Urban Hymns", als Solokünstler brachte er es auf drei Alben unterschiedlicher Qualität, zuletzt "Keys To The World" aus dem Jahr 2006, nicht unbedingt als großer Wurf in die Popgeschichte eingegangen.
Er bestimmt, die Band gehorcht
Da The Verve nach einer kurzen Wiedervereinigung für "Forth" (2008) wohl endgültig Vergangenheit sind, treibt sich der 38-jährige Engländer wieder solo herum - mit einer Band im Schlepptau. Die Verhältnisse sind allerdings geordnet: Er bestimmt, die anderen gehorchen. Der großspurige Projektname: RPA & The United Nations Of Sound. Das aktuelle Lieblingswort, nur am Rande: Pain (Schmerz).
Für die vierte Soloaufnahme suchte RPA, also Richard Paul Ashcroft, sein musikalisches Glück in "America" (ein Song ist auch gleich so benannt), dabei fand er in dem Gitarristen Steve Wyreman, sonst bei Mary J Blidge, dem Bassisten Paul Wright und dem Schlagzeuger Derrick Wright, beide Brooklyner Soulmusiker, dem Streicher-Arrangeur Benjamin Wright, der schon für The Temptations und Aretha Franklin arbeitete, sowie der Chicagoer Hip-Hop-Größe No ID als Produzenten angesehene Unterstützer. So pendeln die zwölf neuen Songs zwischen Tradition und Moderne, Blues von gestern und R'n'B von heute, Soul und Britpop, Gospel und Rap - als träfen die Väter amerikanischer Musik auf ihre Enkel und Ur-Enkel.
Hat dieses mutige, nie zimperliche Experiment in der ersten Albumhälfte noch Form, matten Glanz und überraschende Wendungen, zerfällt es im zweiten Teil in seine oft zu simplen Bauteile. Weder der stumpfe Bluesrock von "How Deep Is Your Man" überzeugt noch der Balladenkitsch von "She Brings Me The Music", seiner Frau gewidmet, der sich am Ende noch mächtig aufbläst. "Let My Soul Rest", der Schlusssong, könnte aufgrund seiner dramatisch billigen Hookline die Erkennungsmelodie für ein Herzschmerzfilmchen geben, orchestraler Pomp und Ashcrofts klagender Gesang tun ihr Übriges.
Während die auserwählte Band, die UNOS, ihren Job dem Anforderungsprofil gemäß mit akkurater Leidenschaft erledigt, hat ihr besessen ackernder Vorgesetzter RPA, der Northern-Soul-Boy auf ausgedehnter Bildungsreise, ein Problem: Er will zu viel. So kennen wir ihn, so haben wir gelernt, ihn zu mögen. Vielleicht wird Ashcroft beim nächsten oder übernächsten Album wieder Momente von Großartigkeit und Unsterblichkeit erzwingen können, dieses Mal hat er es nicht geschafft. Wir sind geduldig. Wir sind bereit.
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