Heidelberg. Herr Stein, Sie waren vor einigen Monaten im Gazastreifen. Wie sind Sie da überhaupt hineingekommen?
Georg Stein: Ich möchte den Namen der deutschen medizinischen Hilfsorganisation jetzt nicht nennen, über die das gelaufen ist. Auf einem anderen Weg geht das nicht. Außer dem Hilfspersonal dürfen nur noch Diplomaten rein. Journalisten haben zum Beispiel schon seit Jahren keine Möglichkeit mehr, sich ein eigenes Bild vor Ort zu machen.
Sie kennen also die örtlichen Gegebenheiten. Wie sehr muss die palästinensische Zivilbevölkerung unter dem Krieg leiden, den die Hamas vom Zaun gebrochen hat?
Stein: Die Menschen leiden massiv. Dort leben 2,3 Millionen Menschen auf einer Fläche von nur 365 Quadratkilometer auf engstem Raum. Die Luftangriffe sollen schon rund 5000 Todesopfer gefordert haben. Israel hat deshalb ja auch die Palästinenser aufgefordert in den Süden zu fliehen, weil es die Bombardements noch ausweiten will und eine Bodenoffensive angekündigt hat. In den Krankenhäusern ist die Lage besonders schlimm. Es gibt keine Medikamente, kein Wasser und vor allem keine Elektrizität mehr. Das gilt auch für Krankenhäuser und medizinische Hilfsprojekte, die von deutschen Organisationen wie dem Roten Kreuz, Medico International oder Misereor unterstützt und mitfinanziert werden. Die Situation im Medizinbereich ist katastrophal, erst recht, wenn man bedenkt, dass es nach UN-Angaben 15 000 palästinensische Schwerverletzte gibt.
Georg Stein – ein Verleger, den der Nahe Osten nicht loslässt
- Georg Stein wurde am 30. Dezember 1954 in Heppenheim geboren. Er studierte an der Universität Heidelberg Politikwissenschaft und Geografie. Seine Magisterarbeit schrieb er über Jassir Arafats PLO. Seitdem hat ihn der Nahe Osten nicht mehr losgelassen.
- 1989 gründete Stein in Heidelberg seinen Palmyra Verlag, der vom „Börsenblatt“ als „führende seriöse Adresse in kritischer Sachliteratur über Nahost“ geadelt wurde. Das „Nahostlexikon“ gehört zu den wissenschaftlichen Standardwerken.
- Stein kannte nicht nur den 2004 verstorbenen Palästinenserpräsidenten Arafat, den er mehrfach interviewte. Er verlegte auch den israelischen Friedensaktivisten Uri Avney, mit dem er zusammen vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau eingeladen wurde. Rafik Schami publizierte bei ihm „Mit fremden Augen“ sein „Tagebuch über den 11. September“.
- Stein leitet auch das seit 25 Jahren dem Verlag angeschlossene Nahostarchiv, das diverse Serviceleistungen anbietet.
Daran trägt doch auch die Hamas eine Mitschuld, sie möchte nicht, dass die Palästinenser in den Süden gehen.
Stein: Wie will sie denn eine Massenflucht in den Süden verhindern? Das kann sie gar nicht. Aber damit kein falscher Eindruck entsteht: Natürlich verurteile ich den Angriff auf Israel am 7. Oktober. Ein solches Massaker ist verabscheuungswürdig. Diese Brutalität, die gezielte Verschleppung von Frauen und Kindern, um sie als Geiseln halten zu können, all das hätte ich mir nicht vorstellen können. Ich frage mich bis heute, warum die Hamas das getan hat.
Haben Sie eine Antwort?
Stein: Es gibt da einige Spekulationen. Die Hamas wollte wahrscheinlich verhindern, dass Saudi-Arabien auch ein Abkommen mit Israel abschließt, wie es bereits die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, der Sudan und Marokko getan haben. Diese haben inzwischen diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen. Der Deal mit Saudi-Arabien ist jetzt geplatzt.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat geglaubt, er könne mit allen arabischen Staaten Frieden schließen ohne Rücksicht auf die Palästinenser.
Stein: Die Gespräche waren schon weit gediehen. Mit dem Angriff auf Israel hat die Hamas unter anderem erreichen wollen, dass sich die arabischen Nachbarn von Israel abwenden und keine politischen Vereinbarungen mehr auf Kosten der Palästinenser machen können.
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Glauben Sie, dass Israel die Hamas ausschalten kann?
Stein: Die Hamas wird mit Sicherheit so stark geschwächt, dass sie in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren nicht mehr diese militärische und operative Stärke erreichen wird, die ja nötig ist, um Israel so enorm zu treffen wie am 7. Oktober.
Die Hamas hat ihre Stärke auch zum Teil Israel zu verdanken, weil es nach dem alten Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ vorgegangen ist.
Stein: Ja, Israel hat den Aufstieg der Hamas Ende der 1980er Jahre finanziell unterstützt. Das wurde auch nie bestritten. Mit diesem Schachzug wollte Israel ein politisches Gegengewicht zur PLO schaffen und diese schwächen. Man darf ja nicht vergessen, dass sich Israel lange Zeit geweigert hat, die PLO anzuerkennen.
Der ehemalige Ministerpräsident Ehud Barak gibt Israel deshalb eine gewisse Mitschuld am Massaker, weil man in der Vergangenheit zugelassen hat, dass Katar die Hamas unterstützt hat.
Stein: Ja, da sind mehrere Milliarden geflossen. Mit diesem Geld und der Militärhilfe durch den Iran ist die Hamas erst stark geworden. Aber Sie dürfen nicht vergessen: Dieses Massaker ist auch ein Resultat einer 56 Jahre anhaltenden Besatzung Israels in den Palästinensergebieten. Darüber wird fast nie gesprochen. Auch im Westjordanland droht deshalb eine Eskalation. Da gibt es ja fast täglich Übergriffe durch israelische Siedler, die von der Regierung nicht gestoppt werden. Im Westjordanland leben ja allein 500 000 israelische Siedler. In Ost-Jerusalem sind es 250 000. Da kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Toten. Das ist ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen kann.
Wie groß ist denn der Rückhalt, den die Hamas in der palästinensischen Bevölkerung hat?
Stein: Wenn Sie auf den israelischen Botschafter in Deutschland hören, ist jeder Palästinenser im Gazastreifen ein Hamas-Anhänger und Terrorist. Das ist kompletter Unsinn. Internationalen Umfragen zufolge, würden etwa 30 Prozent der Palästinenser der Hamas bei Parlamentswahlen ihre Stimme geben. Der Anteil derjenigen, die die Fatah unterstützen, ist mit Sicherheit etwas größer. Man muss außerdem wissen, dass die Hamas nicht nur als Terrororganisation gesehen werden kann. Sie hat neben dem Aufbau ihrer politischen und militärischen Infrastruktur immer auch stark als soziale Organisation gewirkt und beispielsweise Krankenhäuser, medizinische Hilfsdienste und Schulen gegründet.
Warum ist das Elend der Palästinenser dann so groß?
Stein: Seit 2008 hat es fünf Gaza-Kriege mit mehr als 6000 Toten gegeben. Da wurden immer wieder Teile der Infrastruktur zerstört. Und 2007 hat Israel eine totale Land-, See- und Luftblockade über den Gazastreifen verhängt. Die Menschen leben dort im größten Freiluftgefängnis der Welt. Deshalb bleibt ihnen manchmal gar nichts anderes übrig, als einen Job bei der Hamas anzunehmen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich habe Bekannte, die haben an der Islamischen Universität gearbeitet, ohne damit automatisch Hamas-Anhänger zu sein. Die Arbeitslosenquote beträgt 60 bis 70 Prozent. Das liegt natürlich auch daran, dass Israel bis zum 7. Oktober nur rund 18 000 Palästinensern aus dem Gazastreifen eine Arbeitserlaubnis als Tagelöhner in Israel erteilt hat. Früher waren das mehrere Zehntausend.
Israels Botschafter in Deutschland hat im Fernsehen bei Anne Will gesagt, dass viele Palästinenser der Hamas bei den Angriffen mit Informationen geholfen hätten. Damit wirft er sie gewissermaßen in einen Topf mit den Terroristen.
Stein: Dem ist entschieden zu widersprechen. Es geht ja noch weiter. Der israelische Verteidigungsminister hat mehrfach gesagt, dass die Palästinenser menschliche Tiere seien. Wenn ein Mensch kein Mensch mehr ist, hat er im Prinzip kein Lebensrecht mehr.
Israels Botschafter hat die „Ja, aber“-Haltung in Deutschland kritisiert. Es sei illegitim, Solidarität mit Israel zu äußern, die Gegenangriffe in Gaza aber als zu weitgehend zu sehen.
Stein: Das ist völlig unbegründet. Natürlich hat Deutschland aus historischen Gründen ein besonderes Verhältnis zu Israel. Das kann gar nicht anders sein. Der Holocaust und die Tatsache, dass die Deutschen sechs Millionen Juden ermordet haben, ist einer der Gründe, warum ich mich schon fast 50 Jahre mit dem Nahen Osten beschäftige. Aber wir müssen auch solidarisch sein mit Menschen wie den Palästinensern, wenn sie leiden. Deutschland steht fest an der Seite Israels, aber man darf ruhig auch feststellen, dass Israel in diesem Krieg wieder einmal massiv das humanitäre Völkerrecht missachtet und sich überhaupt nicht an das Prinzip der Verhältnismäßigkeit hält.
Sie sprechen aber Israel nicht das Recht ab, die Hamas auszuschalten, oder?
Stein: Israel hat das Recht, sich zu verteidigen, aber nicht in dieser Form. Angriffe auf Zivilpersonen sind Kriegsverbrechen. Israel hat erst vor wenigen Tagen eine bedeutende, sehr alte historische griechisch-orthodoxe Kirche in Gaza zerstört. Es gab viele Tote und Verletzte unter den Palästinensern, die dort Zuflucht gefunden haben. Auch das ist ein Kriegsverbrechen. Bisher galten Schulen, Krankenhäuser und eben religiöse Stätten als relativ sichere Orte. Mittlerweile wird ja auch der Süden im Gazastreifen bombardiert, obwohl Israel versprochen hat, dass die Zivilbevölkerung dort in Sicherheit wäre. Es rächt sich jetzt auch, dass die internationale Politik sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr um den Konflikt im Nahen Osten und vor allem um die seit 56 Jahren andauernde Besatzung gekümmert hat. Jetzt wird der Gazastreifen in Schutt und Asche gelegt. Er ist ja jetzt schon zum großen Teil zerstört. Schauen Sie sich doch nur die Fernsehbilder an. Da wird kaum mehr etwas übrig sein, wenn dieser Krieg vorbei ist. Und die Palästinenser haben große Angst vor einer weiteren Vertreibung.
Der ideale Nährboden für zunehmenden Hass auf Israel?
Stein: Der Konflikt wird sich bestimmt weiter radikalisieren. Es wird eine neue Generation von jungen Palästinensern heranwachsen, die nichts mehr zu verlieren hat, darunter werden dann auch neue Gewaltbereite sein.
Sie kritisieren die israelischen Regierung. In der aufgeheizten Debatte gerät man da leicht unter Antisemitismus-Verdacht.
Stein: Es gibt in Deutschland leider einen weit verbreiteten Antisemitismus, der durch die ganze Gesellschaft geht. Wir müssen uns deshalb jeglicher Form des Antisemitismus entgegenstellen. Die Kritik an der Politik Israels hat aber nichts mit Antisemitismus zu tun. In meinem Verlag sind immer beide Seiten in Form von Büchern oder Begegnungen zu Wort gekommen. Deshalb glaube ich, dass viele wissen, dass wir eine seriöse Position vertreten. Ich engagiere mich aber auch schon lange für die Rechte der Palästinenser. Deren Verwirklichung wird langfristig sicher auch im Interesse Israels sein. Ich habe einmal den früheren israelischen Außenminister Abba Eban interviewt. Der meinte: Es macht keinen Sinn, Frieden mit seinen Freunden zu schließen, man muss das mit seinen Feinden machen. Leider wird diese Binsenwahrheit in Israel ignoriert.
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