Musik, wie "Der Graf" und seine Band Unheilig sie spielen, ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Streng genommen war sie das schon lange, bevor die Aachener Combo in den Fokus eines breiten Publikums rückte und ihr jüngster Langspieler "Große Freiheit" die Verkaufscharts stürmte. Den größten Anteil daran, einer von Haus aus eher dem Pop zugeneigten Zuhörerschaft eine Aktiv-Immunisierung gegen den Ansturm der "Neuen Deutschen Härte" mit ihren wütenden Sägezahn-Gitarren und rasselnden Felsgrotten-Stimmen zu verabreichen, hatten sicher die musikalischen Feuer- und Stahlgewitter der Band Rammstein; "Herbergsvater" und "Bayreuth 1"-Schöpfer Joachim Witt war sicher auch nicht unbeteiligt.
Nun werden Unheilig und besagtes Genre der "Neuen Deutschen Härte" zwar immer wieder gern in einem Atemzug genannt. Tatsächlich aber schmiegen sich viele der Songs, die Sänger "Der Graf" und seine Mannen beim Konzert in der Mannheimer Maimarkthalle zu Gehör bringen, als epischer Romantik-Pop an die wolkenverhangene Seele, lassen sich unschwer auch als passende musikalische Untermalung zum Kerzenlicht-Dinner vorstellen.
8000 Zuschauer sind gekommen - "Große Freiheit II - Die Jubiläumstour", verrät die Konzertkarte. "Heute feiert Unheilig Geburtstag", verkündet der "Graf" und bringt das neue Stück "Winter" als Gruß zum zehnjährigen Bandbestehen. Einmal mehr bieten Unheilig eine sorgsam durchkomponierte, opulente, von starkem Applaus begleitete Show - ein Schiffsbug wurde hierfür auf der Bühne drapiert, eine Art Landungssteg ragt in das Publikum hinein, Videos laufen über die Projektionsflächen.
Neben den Balladen wie "Schutzengel", das der "Graf" mit tiefer Stimme allein zur Piano-Begleitung singt, "Mein Stern" oder "Unter deiner Flagge" - mit der Unheilig Stefan Raabs "Bundesvision Song Contest" gewannen - steuern sie ihren Musikdampfer in stürmische Gewässer: Bei "Abwärts", "Freiheit" oder "Seenot" befeuert Schlagzeuger "Potti" mit Basstrommel-Schlägen den Maschinenraum, lanciert Gitarrist Christoph "Licky" Termühlen scharfe Verzerrer-Angriffe und sorgt Henning Verlage für heftigen Keyboard-Wellengang. Und dann gibt es die großen Hymnen, "Große Freiheit" und in der Zugabe der alles überschattende Hit "Geboren um zu leben". Zugegeben: Nach düster-romantischen Stereotypen und ausladendem Pathos muss hier in Texten und Musik nicht lange gesucht werden. Ungeachtet dessen bürgt der Auftritt für gelungenes, familiengerechtes Entertainment. Zudem ist der "Graf" ein sympathischer Frontmann, besitzt ausgeprägtes Bühnen-Charisma und agiert (auch wenn das merkwürdig klingen mag bei jemandem, der weiße Kontaktlinsen zu tragen pflegte) angenehm ungekünstelt.
Es lohnte sich übrigens, schon früh zum langen Konzertabend zu erscheinen: Im Vorprogramm wärmte die Hamburger Formation Mono Inc. mit wunderbar altmodischem, gesanglich an Ian Curtis und Phillip Boa geschultem Wave-Rock das spinnwebenverhangene Schwarzkittelherz, dann bot Stephan L. Groths norwegisches "Future-Pop"-Projekt Apoptygma Berzerk die Gelegenheit, den großartigen "Kathy's Song" live zu hören.
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