Schauspiel

Mit der Haarbürste gegen Milliardenbetrug

Das Solo-Stück „Whisperblower“ ist am Mannheimer Theater Oliv uraufgeführt worden.

Von 
Martin Vögele
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Daniela Michel spielt Finanzbeamtin Anna Schablonski. © Theater Oliv/J. Schurr

„Ich bin ein Kopfmensch“, sagt Anna Schablonski von sich selbst. „Fühlen, das ist nicht mein Fachgebiet.“ Schablonski ist Finanzbeamtin. Ihr Zimmer ist auf exakt 20 Grad temperiert, sie braucht genau sieben Stunden Schlaf, isst nicht in der Kantine mit den Kolleginnen und Kollegen, sondern holt sie sich jeden Morgen eine Asia-Box beim Imbiss. Die elfte gibt es dann jeweils umsonst – eine kalkulierbare Kausalkette, die ihr dann doch ein gewisses Maß an gemäßigter Euphorie beschert.

Eher apart erscheint da der Umstand, dass sie sogenannte ASMR-Videos dreht (Autonomous Sensory Meridian Response), in denen sie sich die Haare bürstet, die Striche zählt und ab und an Worte mit sorgsam artikuliertem weichem „s“ ins Mikrofon spricht – und damit ein Publikum mit 450 000 Followern erreicht, denen sie ein kribbelndes Wohlgefühl beschert. Nach ihrem Internet-Alias ist auch das Stück benannt, dessen Uraufführung in der Regie von Uwe von Grumbkow am Mannheimer Theater Oliv Premiere feiert: „Whisperblower.“

In welchem Zusammenhang Anna und ihr YouTube-Ich stehen, erfahren wir erst spät im Verlauf des Solo-Stücks von Veronika Fischer und Christine Zureich (der Untertitel: „Ein supersensitiver Steuermonolog“), in dem Schauspielerin Daniela Michel die Protagonistin verkörpert.

Die Handlung dieser Wirtschaftskrimi-Groteske basiert auf dem Cum-Ex-Skandal, jenem im Jahr 2018 ruchbar gewordenem Steuerhinterziehungs-System, das einem Konglomerat von Wertpapierhändlern, Steuerberatern, Bänkern und Anwälten über Jahre hinweg Milliardenbeträge bescherte. Schablonski stößt bei der Routinearbeit auf Auffälligkeiten, beginnt zu recherchieren. Chef und Kollege („Spiel hier nicht den Robin Hood“) wollen davon nichts wissen, stattdessen gibt’s bald den ersten drohenden Kanzleibrief, als sie die Erstattung einer ominösen Steuerrückzahlung zurückhält.

Ritterin der traurigen Gestalt

Für die Steuermoral- und ordnungsliebende Finanzbeamtin wird die Offenlegung der Machenschaften zu einer nachgerade heiligen Empörungs-Mission, die sie mit zunehmendem, sich lautstark bahnbrechenden Furor führt. Die Tragik in der Stückkomik, die Schablonski zu einer Ritterin der traurigen Gestalt werden lässt, entsteht nicht dadurch, dass sie einen Kampf gegen Windmühlen führt (die schließlich echte, mächtige Finanz-Riesen sind), sondern vielmehr durch das frappierende Desinteresse, die Gleichgültigkeit, auf die sie dabei allerorten stößt. Liegt das an der Unfassbarkeit der bizarr hohen Zahlen, um die es hier geht? Vielleicht lassen die sich ja als ein Art ASMR-Gräfin-Zahl begreiflich machen...

Die Inszenierung gibt Daniela Michel reichlich Gelegenheit, sich mit kompetenter Verve durch alle emotionalen Register zu spielen, wobei das Stück bei guten 100 Minuten Spielzeit nicht ganz ohne erzählerisch-redundante Bürstenstrich-Längen bleibt.

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