Seit wenigen Tagen hat nun auch Deutschrap sein #metoo; für Kritiker des Genres ist das keine Überraschung, schließlich gelten Sexismus und Deutschrap für nicht wenige als natürliche Symbiose. Das stimmt natürlich so nicht; nichtsdestotrotz hat Deutschrap ein Problem, mehr als dieses eine sogar - da geht es dem musikalischen Genre nicht anders als der Gesellschaft, in der wir leben.
Auch der Mannheimer Jan Hertel schaltet sich in die Debatte ein, endlich wieder könnte man meinen. Denn Chaoze One, wie sich Hertel angelehnt an den legendären Brooklyn-MC KRS-One, nennt, war lange weg, sehr lange so gar.
Venti heißt sein neues Album, über Text-Reminenzen an Erich Fried, Drafi Deutscher, Walt Whitman, Walter Ulbricht oder Helene Fischer holpert das Instrumental des Openers und der ersten Single „Memento Moria / Die Welt brennt“, bevor sich das Stück zu einem Rocksong verdichtet, der so gar nichts mit den üblichen Crossover-Flirts der Genres Rock und Rap gemein hat. „Memento Moria / Die Welt brennt“, der Titel ist unmissverständlich.
Ergebnis logischer Entwicklung
Venti ist das erste Album des Künstlers seit mehr als einer Dekade und das erste Rapalbum auf Grand Hotel van Cleef, dem Label, das unter anderem von den Indie-Helden Thees Uhlmann und Marcus Wiebusch geführt wird und ihren Bands Tomte und Kettcar schon immer mehr als musikalisch Heimat gewesen ist.
Wobei man hier von einem Rapalbum kaum sprechen kann. „Ich wollte, dass mein neues Album klingt, wie mit einer Band eingespielt“, sagt Hertel und schon die ersten Takte bestätigen, dass ihm das gelungen ist. Das Heraustreten aus der Rap-Ecke ist hier jedoch weniger Kalkül, sondern das Ergebnis einer logischen Entwicklung eines Menschen und Künstlers, der viele Jahre als Zuschauer reifte.
Chaoze One war einst wie andere Künstler aus der politisch verordneten Rapszene nicht weniger als der Zeit voraus; Flucht, Migration, Kritik an Kapitalismus, Sexismus, Antisemitismus - seine Themen haben in 2021 die linke Szene verlassen und den (Pop-)Mainstream erreicht. Alte Weggefährten wie die Antilopen Gang; Künstler wie Kraftklub, K.I.Z. oder Nura vereinen heute kommerziellen Erfolg mit politischen Botschaften und Engagement. Das Label wiederum könnte mit der Veröffentlichung einmal mehr zeigen, was die Macher schon seit Jahren tun: Dass Haltung keine musikalischen Schubladen kennt.
An der Bürgerbühne zu sehen
„2008 war die Rapszene für mich endgültig durch, ich fiel in eine Sinnkrise, musste im privaten und künstlerischen Bereich wieder zu mir finden“, erläutert der Musiker die Gründe für die lange Pause, mit denen er sich schon in seiner 2019 erschienenen Biografie „Spielverderber: Mein Leben zwischen Rap & Antifa“ auseinandergesetzt hat.
Schon damals konnte er es nicht mit sich vereinbaren sich in einer Szene zu bewegen, in dem Frauenhass nicht nur ganz offen zur Schau gestellt wird, sondern oft scheinbar eine Zugangsberechtigung zur Szene darstellt, die auch mit dem Verlassen von Bühne und Tonstudio in den Köpfen der männlichen Künstler nicht erlischt. „Die Lust, Musik zu machen, war jedoch nie weg. Lernen musste ich aber nicht nur wie ich das Ganze angehe, sondern mich auch mit dem wieder hineintreten aus der Öffentlichkeit auseinandersetzen, einer Öffentlichkeit, die heute maßgeblich von Social Media bestimmt wird - das hat bei meinem letzten Album noch keine Rolle gespielt.“
Begleitet in der Findungsphase hat ihn maßgeblich Oli Second, ein Freund aus alten Tagen, Musiker und Mentalcoach. Ab 2013 entstanden dann die ersten Ideen, das erste neue musikalische Lebenszeichen drei Jahre später in Form einer Single, die an die Hamburger Punkband Die Goldenen Zitronen referenziert. Dann war erst einmal wieder Pause. Jetzt also das neue Album, das Vierte des Künstlers, der in Mannheim auch an der Bürgerbühne des Nationaltheaters zu sehen ist, zuletzt in dem Stück „Wie der Soldat das Grammofon repariert“, einer Adaption des Romans des Trägers des Deutschen Buchpreises Sasa Stanisic von Regisseurin Beata Anna Schmutz, mit der er oft zusammenarbeitet. Eine Erfahrung, die sich auch für Venti bezahlt machte. „Die Arbeit mit ihr hat mir geholfen weniger direkt zu texten, wie ich es früher getan habe. Meine Songtexte heute bieten mehr persönlichen Interpretationsraum für die Zuhörer, als es früher der Fall war.“
Mehr Indie-Rock als Rap
Auch musikalisch ist Venti deutlich komplexer, als ein Album, das nach wie vor dem Rap-Genre zuzurechnen ist. Venti, eingespielt mit Gästen wie Torsun Burkhardt (Egotronic), Mal Éléve, Shana Supreme sowie dem Punk-Autor Jan Off, ist ein Musiker-Album geworden. Beats gibt es trotzdem, gerappt wird durchgängig, doch es werden wohl eher Indie-Rocker ohne Scheuklappen als Rap-Fans zugreifen. Das ist auch völlig okay so - denn Musik kennt Genres erst durch Presse und Industrie.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-mannheimer-rapper-chaoze-one-veroeffentlicht-erstes-album-seit-mehr-als-zehn-jahren-_arid,1825636.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html