„The future will be confusing“, die Zukunft wird verwirrend sein, lautet der Titel einer ebenso einfachen wie rätselhaften Lichtinstallation des britischen Künstlers Tim Etchells. Die Zukunft wird verwirrend sein? Ist unsere Gegenwart nicht schon verwirrend genug? Und wird uns nicht ständig versprochen, dass in der Zukunft alles einfacher und übersichtlicher wird?
Sicher ist, dass wir am Beginn eines gewaltigen technologischen Innovationsschubs stehen – oder stecken wir schon mitten drin? Ein Innovationsschub, der unsere Gesellschaft, ihre Institutionen und damit auch die Kunst nicht unberührt lassen kann.
Kunst legt immer Zeugnis ab von der Zeit und der Gesellschaft, in der sie entsteht. Will ich verstehen, wie sich unsere Kulturlandschaft verändert, muss ich wissen, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Mannheim ist hierfür ein idealer Ort. Hier kann man schon heute beobachten, wie unser Land in 20, 30 Jahren aussehen wird: vielsprachig, vielfältig und widersprüchlich, traditionsbewusst und schnelllebig, beständig und beweglich, regional verwurzelt und global vernetzt.
Gemeinsamkeiten neu verhandeln
Wir werden eine Gesellschaft völlig unterschiedlicher Individuen sein. Wir leben zwar zur selben Zeit am selben Ort, sind aber grundverschieden – nicht nur hinsichtlich unserer geografischen, kulturellen oder religiösen Hintergründe, sondern vor allem in Bezug auf unsere Sozialisation, Erfahrungen, Vorlieben, auf unser Freizeitverhalten und natürlich auch unsere Ansprüche an Kunst. Was wir gemeinsam haben, werden wir immer wieder neu herausfinden und verhandeln müssen.
Eine derart vielfältige Gesellschaft braucht eine ebenso vielfältige Kulturlandschaft – eine Kulturlandschaft, deren Institutionen Angebote für die verschiedensten Interessen, Voraussetzungen und Bedürfnisse bereit halten und die dennoch versuchen, die Themen, die uns alle gemeinsam umtreiben, zu adressieren.
Zum Beispiel das Theater: Wir werden im Theater Geschichten erzählen, die uns helfen, die in einer Gesellschaft der Vielheit unweigerlich auftretenden Konflikte auszuhalten, wenn nicht gar aufzulösen. Die von unserem unmittelbaren Lebensumfeld berichten und die uns dennoch erlauben, uns ins Verhältnis zu setzen zum Rest der Welt. Wir werden aus verschiedenen Blickwinkeln erzählen, in verschiedenen Sprachen spielen und auf eine große Bandbreite verschiedener Stile, Ästhetiken und Ausdrucksformen zurückgreifen können.
Kunst hat ihre eigene Zeitlichkeit: Werke vergangener Epochen faszinieren uns, sofern es uns gelingt, sie auf unsere jeweilige Gegenwart zu beziehen. Allerdings werden wir die Kenntnis solcher Werke nicht länger als gegeben voraussetzen können, sondern selbst die Grundlagen dafür schaffen müssen, unsere Kunst zugänglich zu machen.
Orte der (Ver-)Sammlung
Auch eine digitale Gesellschaft braucht analoge Orte der Versammlung. Neben den bewährten Räumen der Kunst, den Theatern, Galerien oder Museen, werden wir Räume bespielen, die das Verhältnis von Zuschauern und Spielern fortwährend neu definieren, bis hin zu virtuellen Räumen. Vor allem werden wir die Modernität des bereits in den 1950er Jahren als offene Raumbühne konzipierten Schauspielhauses des Nationaltheaters Mannheim zu würdigen und zu nutzen wissen.
Auf die großen, oft Jahrhunderte alten Kulturinstitutionen kommen in einer Gesellschaft der Vielheit vielfältige und widersprüchliche Aufgaben zu, die sie vor eine Zerreißprobe stellen werden, sie im besten Fall aber zu potenten, vielseitigen und unverzichtbaren Akteuren des öffentlichen Lebens machen: Sie müssen Traditionen wahren und das künstlerische Experiment fördern.
Zugleich sollen die Kulturinstitutionen der Zukunft geschützte Räume bieten, in denen hochkonzentriert über einen längeren Zeitraum hinweg künstlerisch gearbeitet werden kann. Sie sollen Beständigkeit garantieren und dabei enorm flexibel sein, eigenständige Profile entwickeln, damit sie unverkennbar sind, und zugleich kooperieren, um gemeinsam Projekte auf den Weg zu bringen, für die jeder Partner für sich genommen zu klein wäre. Schließlich sollen sie kostenbewusst arbeiten – und dabei Kunst produzieren, die sich jeder ökonomischen Notwendigkeit entzieht.
Ich glaube, dass diese vermeintlichen Widersprüche sehr wohl miteinander vereinbar sind. Wichtige Voraussetzungen dafür sind Offenheit, Beweglichkeit und Neugier – und zwar bei Künstlern, Institutionen und Publikum. Das Wissen um die eigenen Stärken und Fähigkeiten sowie Empathie und Bescheidenheit sind die Voraussetzungen dafür, kooperativ zu denken und vernetzt zu handeln.
Kunst als Arbeit an Gesellschaft
Ein gesamtgesellschaftlicher Konsens, dass Kunst ein hohes öffentliches Gut ist, dass eine Gesellschaft gut beraten ist, sich Kunst-Räume zu schaffen, in denen sie sich selbst in Frage stellen lassen kann, und dass künstlerisches Wirken Arbeit an der Gesellschaft ist und entsprechend entlohnt und abgesichert werden muss, sind ebenfalls unerlässliche Voraussetzungen für eine blühende und vielfältige Kulturlandschaft.
Nein, übersichtlich wird unsere Kulturlandschaft nicht sein. Aber wenn wir es schaffen, die Widersprüche, die unsere Gesellschaft und damit auch die Kunst prägen, auszuhalten und auszubalancieren, dann sind auch unsere Kulturinstitutionen, egal ob groß oder klein, gut gerüstet für die Zukunft. Eine Zukunft, die verwirrend, vor allem aber vielfältig, lebendig und dynamisch ist.
Versierter Theatermacher
- Zur Person: Christian Holtzhauer ist seit Beginn der Spielzeit 2018/19 Schauspielintendant und Künstlerischer Leiter der Internationalen Schillertage am Nationaltheater Mannheim. Er wurde 1974 in Leipzig geboren und studierte Musik- und Theaterwissenschaft in Berlin und Toronto. Von 2005 bis 2013 wirkte er als Dramaturg und Projektleiter am Staatstheater Stuttgart. Von 2013 bis 2018 war Holtzhauer künstlerischer Leiter des Kunstfestes Weimar.
- Zur Serie: Wie wird die Kulturlandschaft in 20, 30 oder 50 Jahren aussehen? Wie werden die traditionellen Kulturbetriebe arbeiten und wie mit der freien Szene kooperieren? Wird es dann noch klassische Museen und Theater geben? Oder ist alles digitalisiert? In der Serie Kulturutopie blicken Kulturschaffende der Region für diese Zeitung mit Gastbeiträgen in die Zukunft.
- Mehr im Netz: Zum Auftakt der Serie hat die baden-württembergische Kulturstaatssekretärin Petra Olschowski in einem Interview ihre Visionen für die Zukunft geschildert. Autoren wie Jan-Philipp Possmann, Leiter und Geschäftsführer des Kulturzentrums Zeitraumexit, setzten die Serie fort. Alle Teile der Serie unter morgenweb.de/kultur.
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